Der Soziologe Heinz Bude möchte die Motivation zur Solidarität im Einzelnen finden. Dabei verwirft er viele Theorien, wird existentialistisch, aber bleibt mit seinem Solidaritätsbegriff vage.

Es ist schon ein Kreuz mit der Solidarität. Alle fordern sie, kaum ein Einzelner rafft sich zu ihr auf. Ja, man kann heute allerlei Sozialleistungen einklagen von einem Staat, der jede „Gerechtigkeitslücke“ schließen soll – aber wenn irgendwo noch eine Gerechtigkeitslücke besteht, dann ist nicht klar, warum irgendwer zu Engagement und Solidarität motiviert sein sollte. Sie soll beflügeln, und wirkt doch kalt gegenüber Worten wie „Familie“, „Freundschaft“ oder religiöser „Barmherzigkeit“. Populisten schreien heute nach Solidarität – und wollen Asylsuchende von ihr ausschließen.

Es sind solche Paradoxien und Ausweglosigkeiten, die einen großen Teil von Heinz Budes schmalem Buch „Solidarität“ ausmachen. Dabei führt der Untertitel leicht in die Irre: Weniger „Die Zukunft einer großen Idee“ erläutert Bude hier, sondern vielmehr zeigt er größtenteils, warum alle Solidaritätskonzepte der ferneren und jüngeren Vergangenheit leider heute scheitern müssen.

Die Clan- und Dorfsolidarität etwa möchten wir wohl nicht zurück – mit ihrer Totalüberwachung durch Verwandte und Nachbarn. Und eine Solidarität wie vom Marxismus ausgerufen? Sie scheitert heute daran, dass die Klassen verschwinden und mit ihnen die gemeinsamen Räume der Arbeit: Statt Fabriken mit Arbeitermassen gibt es heute Heere von Bürokräften, die allerdings in konkurrierenden Teams aufeinander losgelassen werden. Wenn sie nicht gleich als outgesourcete Scheinselbständige den Kampf aller gegen alle leben müssen.

Und die Solidarität wird auch nicht geboren, wenn man, wie Bruno Latour, die Verbundenheit alles Lebenden im Namen der Mutter Erde ausruft. Zu abstrakt! Die Evolutionsbiologie von Michael Tomasello, die Philosophien von Jürgen Habermas und John Rawls, die Ideen der Sozialdemokratie – Heinz Bude diskutiert so Einiges.

Aber am Ende kann keinerlei Naturwissenschaft die Solidarität fassen, keine Gerechtigkeits-Ethik die Solidarität erzwingen. Sie kostet akut immer mehr, als sie dem Einzelnen zurückgeben wird. Und eine versteckte Anlage, die man aus unserer tiefsten menschlichen Natur nur hervorkitzeln müsste, scheint sie auch nicht zu sein. Jede Theorie der vergangenen Jahrzehnte habe uns dahingehend enttäuscht und hinterlässt ein Gefühl des Absurden.

Für Heinz Bude heißt das, jeden theoretischen Überbau wegzuwerfen – wodurch wir Menschen in geradezu existentialistischer Manier sichtbar werden als nackte, einsame, schutzlose Wesen. Fühlten wir das einmal, so rebellierten wir am Ende doch gegen diese trostlose Welt und schlössen uns zusammen. Dieser Solidaritätsbegriff wiederum ist schon im Vorwort vollständig dargelegt und wird am Ende nur wieder aufgegriffen. Eigentlich ist das nicht mehr als eine Hoffnung, denn Heinz Bude verkneift es sich, irgendeinen marxistisch angehauchten geschichtlichen Automatismus auszurufen.

Es ist eine recht eigenwillige List der Vernunft: Individualisierung und Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte schwingen irgendwann um in Solidarität, undzwar gerade durch das Gefühl der Einsamkeit.

Das wiederum hat ein Geschmäckle von Inkonsistenz, denn in der Mitte des Buches ist schon einmal von den Einsamen die Rede – im Kapitel über die Achtsamkeit. Hier greifen nun plötzlich skurrile Soziologenreflexe: Achtsamkeit sei nichts mehr als eine Reparaturmaßnahme für das unternehmerische Selbst im Neoliberalismus, Ausdruck des ständigen Zwangs zur Selbst-Optimierung. Von solchen Menschen sei keine Solidarität zu erwarten.

Diese Karikatur von Achtsamkeit als Weltflucht ist schlicht skurril. Sie verdrängt völlig, dass es Achtsamkeit braucht, eigenes und fremdes Leid überhaupt wahrzunehmen und sich unverdrossen zu engagieren, anstatt nur existentiell zu erschauern. Vielleicht liegt hier das eigentliche Problem: Überall einen internalisierten Neoliberalismus diagnostizieren zu wollen und dabei die mögliche Medizin zu übersehen.

Ein kurzes Buch, das zeigt, warum die Gesellschaft so traurig, utopieverdrossen und kalt ist, aber nicht, wie sie wärmer wird.

Heinz Bude: „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ ist erschienen im Verlag Carl Hanser. 176 Seiten kosten 19 Euro.

Rezensiert für die SWR2 Lesenswert Kritik.