Christoph Türcke blickt in unsere digitale Zukunft und sieht dort einerseits eine zerstörte Wirtschaftsordnung, andererseits glückliche Selbstversorger. Ein Buch voller interessanter Spekulationen.

Der deutsche Philosoph Christoph Türcke ist auch nach seiner Emeritierung 2014 an der Hochschule für Buchkunst und Grafik in Leipzig ein aktiver Schriftsteller geblieben, der gerne in die öffentlichen Debatten eingreift. Zum Schulsystem oder zur Ökonomie im Allgemeinen hat er sich zu Wort gemeldet, davor zu Themen wie Heimatbegriff, Geschlechterverhältnis, Fundamentalismus, Religion und Gewalt, Mediengesellschaft.

So breit Türckes Themenpalette ist, so weit und umfassend ist auch der Blick, den er in seinem neuesten Buch in die Zukunft richtet: Hier lotet er die utopischen Potentiale und die Schattenseiten der Digitalisierung aus. Von einer Herrschaft der Internetkonzerne bis zu ländlich-marxistischen Idyllen reichen seine Visionen.

Beim Titel „Digitale Gefolgschaft“ denkt man schnell an den unsäglichen Schafherdentrieb, an Shitstorms und Hatespeech im Netz. Nach Christoph Türcke aber sind das nur die Vorbeben der grundsätzlicheren Digitalisierung, die schon bald unsere wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Ordnung umkrempeln werden. Plattformen wie Google und Facebook könnten dann, anstatt von Staaten, zentrale Ordnungsmächte werden – mit nie gekannter Machtfülle.

Ja, im Kern ist dieses Buch zunächst kulturpessimistisch, wenngleich es seine Thesen nüchtern vorträgt. Denn Ernüchterung beim Thema Internet hat die nahe Vergangenheit in der Tat gebracht, und Christoph Türcke liest ausnahmslos alle verpufften Technikträume auf ihr Alptraumpotential hin – und das zeigt sich längst:

Die ersehnte weltweite Kommunikationsgesellschaft ist nicht nah und warm, sondern nur laut, nervig und überladen. Medien wie das Smartphone unterbrechen uns eher bei allerlei anderen Tätigkeiten, als uns zu verbinden. Statt eines freien, demokratischen Netzes haben wir Plattformen, die uns mit Werbung zumüllen und unsere Daten absaugen. Und diese Plattformen machen uns geschickt süchtig, setzen auf unsere Geltungssucht und unsere Gier nach aktuellen Informationen. Filterblasen, Shitstorms und der Zwang zur Zuspitzung zerstören daher mittlerweile unsere Debattenkultur.

Für die kommenden Jahre und Jahrzehnte weissagt Türcke: Die neuen Plattformen führten bald immer mehr Industrien in ihre Abhängigkeit. Den Markt beherrscht nicht der, der etwas herstellt, sondern der, der es über seine Plattform dem Markt erst zugänglich acht: Unterkünfte durch AirBnb, Fahrdienste durch Uber, allerlei Waren durch Amazon. Solche Plattformen würden den realwirtschaftlichen Unternehmen irgendwann komplett die Bedingungen diktieren – vielleicht sogar den Staaten, wenn die wiederum kostengünstige Dienstleistungen und Waren suchten wie der Einzelne einst auf Amazon.

Wenn das atemlos und zusammengedrängt wirkt, dann vielleicht, weil Christoph Türcke hier fast alle Themen seiner früheren Bücher zusammenführt: Die Aufmerksamkeitsdefizitkultur aus „Hyperaktiv“, den Traum vom einfachen Leben aus „Heimat. Eine Rehabilitierung“, die hysterische Öffentlichkeit aus „Erregte Gesellschaft“. Manche Reprise passt, wie die zum Bildungssystem unter Digitalisierungszwang, manches wirkt wie aufgesetztes Themen-Recycling, etwa seine Bemerkungen zum Fundamentalismus.

Einen Ausweg aus der Plattform-Diktatur deutet Türcke gleichwohl an: 3D-Drucker! Die bescherten uns vielleicht bald eine Selbstversorgergesellschaft! Profitorientierte Industriekonzerne als Mittelsmänner wären ausgeschaltet, ebenso die dreckigen LKW, die alle diese Waren durch die Lande karren.

Christoph Türcke sieht nach den Wechselbädern der Digitalisierung ein genügsames, friedliches Landleben aufziehen, ein marxistisches Utopia, in dem die Produktionsmittel beim Einzelnen liegen – und nicht bei einem autokratisch-kommunistischen Staat. Eigentlich ist auch das eine untergründig christliche Heilslehre samt Paradiesvorstellung, die Türcke selbst sonst den frühen Internetpropheten so gerne unterstellt.

Kommt dieses klassenlose christlich-marxistische Paradies aber nun notwendig? Tja, wenn man das wüsste! Christoph Türcke schickt seine Leser auf eine ziemliche Utopie-Dystopie-Achterbahnfahrt. Beispiel Bildungssystem: Einmal fürchtet Türcke, die Plattformen könnten den Schulen Clouddienste anbieten, sie davon abhängig machen und am Ende das Schulsystem kapern. Ein anderes Mal wiederum, so seine These, würden Plattformen solche unrentablen Bildungsservices zwangsweise abstoßen.

Je fortgeschrittener die Lektüre, desto öfter heißt es: „nicht vorhersehbar“, „lauter offene Fragen“. Dann wieder redet Christoph Türcke die positiven Potentiale des Netzes klein, etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia oder Twitter im arabischen Frühling. So stecken hinter allen Voraussagen viele implizite Entscheidungen, Gewichtungen, sogar Suggestionen des Autors.

Eine spannende Spekulation, aber eben: eine Spekulation.

Christoph Türcke: „Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft“ ist erschienen im Verlag C.H. Beck. 251 Seiten kosten 16 Euro 95.

Rezensiert für die SWR2 Lesenswert Kritik.