Die Autorin Sina Kamala Kaufmann kann man getrost als „digital native“ bezeichnen. 1985 geboren, hat sie Online-Wahlkämpfe unterstützt und ist bei einer Computerspielfirma tätig. Ihre gewitzten Kurzgeschichten zur nahen Zukunft drehen sich deshalb auch meist um Computer, Schwarmintelligenz und soziale Medien.
Timo war dabei, als Jugendliche montags nichts mehr kauften, vor allem keine Klamotten mit aufgedruckten, angeblich identitätsstiftenden Markennamen – und so eine Revolution gegen den Konsumterror in Gang setzten. Das ist vier Jahre her. Heute ist Timo Lehrer, sieht in einem Geschäft quasi weitergedachte Kleidung hängen und ist ernüchtert: Mit dem Kauf eines jeden Pullis, einer jeden Jeans geht der Kunde von heute zugleich eine Verpflichtung ein: zum Beispiel Öko-Blutorangen anzubauen! Geschäftemacher haben die Revolte von damals wieder eingenordet.
Eine Erzählung, die stellvertretend für die zwölf kurzen Texte im Band „Helle Materie“ von Sina Kamala Kaufmann steht. Darin lotet die Politologin den skurrilen Raum zwischen technischem Machbarkeitswahn, schief abgebogener digitaler Revolution, politischer Korrektheit und tiefen menschlichen Sehnsüchten aus:
Da gibt es Hirnimplantate gegen Depressionen, öffentliche Wahlen darüber, welcher Promi die nächste Therapie erhält, verpflichtende Narzissmus-Tests bei möglichen Führungskräften, Rockzwang für männliche Vorstände von Unternehmen, die die Frauenquote verfehlen, einen Clown, der das Parlament durch kreative Störaktionen erst verwirrt, dann belebt.
„Nahphantastische Erzählungen“ heißt der Band „Helle Materie“ im Untertitel bezeichnenderweise: Mal ist das Geschilderte tatsächlich bald vorstellbar, etwa Stromspar-Wettbewerbe zwischen Städten. Und mal erstrahlt schon die Gegenwart in hellerem Licht, etwa wenn Facebook keine profitgeile Werbemaschine mehr ist, sondern ein demokratisches Pioniermedium wird, das in die Vereinten Nationen integriert wird.
So eine enge Tuchfühlung mit der Gegenwart birgt indes Risiken: So lässt Sina Kamala Kaufmann den Künstler Jonathan Meese, den Komiker Jan Böhmermann und den Philosophen Peter Sloterdijk als Figuren in einer Geschichte miteinander diskutieren. Eine herrliche Parodie des jeweiligen Sprachduktus‘ ergibt sich da, aber leider wenig Handlung, zu viel based-on-a-true-story-Effekt. Viele Talking Heads, wenig Nachfühlbares.
Kaufmanns Sprache ist mit ihren kurzen Sätzen meist auf Informationsvermittlung zugeschnitten , glänzt aber durch einzelne gewitzte Formulierungen. Die „Landlust“-Lüge gestresster Großstädter? Klar seziert in einer Sentenz wie: „Dörfer sind nicht mehr, was sie nie waren.“ Der Wahnsinn des Digitalen? Nicht „Big Data“, sondern „Big Dada“. Kaufmann versteht es auch, der schönen neuen digitalen Welt griffige Slogans und Produktnamen zu verpassen. Alle Milieus werden hier demaskiert: die anglizismuslastigen Techies und Nerds ebenso wie die Yoga-Emos in ihren bürgerlich-biederen Blasen.
Manchem Szenario möchte man am Ende nachsinnen, da stößt man jeweils am Erzählungsende auf einen nachgereichten Absatz unter dem Titel „Lösung“ – eine Art Dekodierhilfe für die vorangegangene Erzählung! Die erklärt deren Sinn dann gerne noch einmal klipp und klar mit den wichtigsten Schlüsselbegriffen, etwa: „Abkoppelung der Finanzindustrie von der Realwirtschaft“ oder „kulturell auseinanderdriftende Erziehungsmodelle“ oder eben Facebook als erstes „weltvergesellschaftetes Unternehmen“!
Das ist zwar eine verschlagene Parodie auf die Lehrer-Frage „Was wollte die Autorin uns damit sagen?“ – aber auch schade, weil sich in so einem Absatz schon wieder so viele Ideen verbergen, über die man gerne mehr gelesen hätte. Fast jede Erzählung enthält den Keim zu einer Novelle, manchmal gar zu einem Roman in sich.
Zusammengedrängt auf den Raum einer Kurzgeschichte wird das dann oft zu einem Pitch und Sketch, auch wenn sich Genre-Fans durchaus in Stimmung und Setting an TV-Serien wie „Black Mirror“ erinnert fühlen dürften. Sina Kamala Kaufmann hat sich auf den weiten Weg zu Größen wie der Science-Fiction-Klassikerin James Tiptree Jr. gemacht, unterwegs steigt mal Max Goldt ein – oder eben Jan Böhmermann.
Wer über ein paar formale Schwächen hinwegsehen mag, wird Spaß an diesen Erzählungen haben, die mehr utopische Ideen formulieren als manch‘ ein zeitgenössischer Roman.
Sina Kamala Kaufmann: Helle Materie. Nahphantastische Erzählungen. Erschienen bei Mikrotext. 176 Seiten kosten 14 Euro 99.
Für die Lesenswert Kritik auf SWR2.