Stephen Greenblatt erhellt literarische Werke gerne vor ihrem historischen Hintergrund – vor allem die Texte William Shakespeares. Mit „Der Tyrann“ schlägt er die Brücke zur gegenwärtigen US-Politik. Die Parallelen zu Trumps Amerika sind deutlich und erschreckend.

Der Vergleich liegt in der Luft: Erst Anfang September erfuhr man, dass ein Ex-Anwalt Donald Trump einen „Shakespeareschen König genannt hat. Gemeint ist damit wohl en detail, so lernt man in Stephen Greenblatts neuem Buch: Ein irrer Egomane wie König Lear. Ein Paranoiker wie Leontes aus dem „Wintermärchen“. Ein übergriffiger Schürzenjäger, Polterer und Macht-Macho wie King Richard III. Die Parallelen sind so deutlich, dass Donald Trump nicht einmal genannt werden muss. Anhand der Dramen analysiert Greenblatt nun die Dynamik der Macht in der Tyrannei.

Und da sieht es nicht gut aus, denn wie König Lear zeigt, versagen all die rechtlichen Prozeduren eines Gemeinwesens, wenn ein wahnsinniger Herrscher erst einmal an der Macht ist. Wie aber kommt ein Irrer überhaupt auf den Thron? Mithilfe von Stephen-Bannon-artigen Populisten etwa, wie Jack Spade aus Henry VI, Teil II: Der ködert das Volk mit Lügen, Versprechungen auf unfinanzierbare Geldgeschenke und dem Hass auf die Eliten.

Bannon scheint damit kein historischer Ausreißer, denn zwischen den Zeilen geißelt Greenblatt immer wieder die US-Republikaner, die wie reiche Patrizier bei Shakespeare populistisch und gottesfürchtig, voller „mitfühlender Sorge“ reden, dem Volk eigentlich aber Rechte, Würde, Brot und Einkommen nehmen. Und im inneren Zirkel der Macht ermöglichen vielerlei Mittäter-Typen den Aufstieg von Tyrannen, analysiert Greenblatt am Beispiel von Richard III: Ignoranten, naive Träumer, Duckmäuser, Intriganten mit eigenen Zielen, Schergen und jene, die seine geheuchelten Ziele wirklich glauben.

Wo der Tyrann ist, wächst das Rettende kaum. Greenblatt zeigt uns nur wenige anständige Diener, die sich weigern, politische Gegner zu foltern; er zeigt Bürokraten, die den Feldherren Coriolan durch rechtliche Winkelzüge ausmanövrieren. Mit Shakespeare können wir zwar hoffen, dass ein Tyrann sich niemals lange hält, weil die Machtdynamik stets unvorhersehbar ist; aber wir müssen fürchten, dass das Gemeinwesen trotzdem in jedem Fall Schaden nimmt.

Tipps zum Umsturz bietet Greenblatt nicht, ein wenig atmet das Buch die Seele eines entsetzt-faszinierten Tragödien-Zuschauers. Und über weite Strecken vollzieht Greenblatt schlicht die verästelten Dramenhandlungen nach. Er liefert zum Beispiel eine minutiöse Deutung der Trilogie um „Henry VI“, der ja wiederum nur die Vorgeschichte zu „Richard III“ bildet. Das ist nun textimmanenter, als man es vom Begründer des New Historicism höchstselbst erwartet hätte. Aber man jubiliert angesichts dieser pointierten Zusammenfassungen, die das nötige Maß an historischem Kontext dann doch liefern.

Nicht nur Trump knöpft sich das Buch vor, sondern zieht viele Vergleiche, manche nur skizzenhaft: Die römischen Katholiken im Untergrund des englischen Königreichs unter Elizabeth? Wie die heutigen islamischen Terroristen: instabile junge Männer mit Märtyrergelüsten. Die Enthauptung Maria Stuarts? Der Liquidierung Osama bin Ladens verwandt. Herrscher-Dynastien? Auch heute noch aktuell, man denke nur an die Clintons und Bushs. Auch politische Lagerbildung und Wählereinschüchterung spricht Greenblatt an.

Dankenswerterweise ist das Buch damit sehr grundsätzlich und wird durch ein Ende der Trump-Präsidentschaft nicht obsolet. Greenblatt hatte die Idee zum Buch bekanntlich um die Präsidentschaftswahl 2016 in einem Artikel für die New York Times skizziert – voller Entsetzen über Donald Trump.

Fragt sich, warum Greenblatt den Namen Trump so vornehm unerwähnt lässt? Vermutlich nickt Greenblatt auch dem Leser freundlich zu, dem er ein Minimum an Transferleistung zugesteht. Und vielleicht ist es schlicht eine Verbeugung vor seinem Lieblingsdichter Shakespeare. Der musste, erläutert Greenblatt ganz zu Anfang, verklausuliert dichten und jede Dramenhandlung in ferne Zeiten und Länder verlegen, um nicht der Subversion angeklagt zu werden.

Eine elektrisierende Lektüre, für Politik-, Geschichts- und auch Literaturinteressierte gleichermaßen.

Stephen Greenblatt: Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert. Übersetzt von Martin Richter für den Siedler Verlag. 224 Seiten kosten 20 Euro.

Für die Lesenswert Kritik auf SWR2.