Der Görlitzer Autor Lukas Rietzschel wird vom Ullstein-Verlag gehypet: Blogger und Rezensenten fährt der Verlag nach Sachsen, wo Rietschel aufwuchs und seinen Roman spielen lässt. Schon überbieten sich die Rezensenten mit Lobeshymnen. Vielleicht ein Buch der Stunde, aber kein Roman des Jahrzehnts.
Lukas Rietzschel hat ein sehr klares Konzept für einen Roman gehabt: Wir erleben die sächsische Provinz vom Jahre 2000 bis 2015 und zwar strikt chronologisch erzählt, eine Jugend lang. Es ist die Jugend von Philipp und seinem jüngeren Bruder Tobias. Zwar wird Philipp irgendwann Mechatroniker und Tobias Angestellter in einer Fahnenfabrik. Aber ihre Freundinnen verschwinden irgendwann, wie viele Frauen, gen Westen, viel Lebensglück bietet diese Gegend nicht, in der die traditionelle Schlägerei beim Dorffest die einzige Ablenkung scheint. Dieses Nest namens Neschwitz ist samt Umgebung fast schon die schwer depressive Hauptfigur. Geradezu lehrbuchhaft spiegelt Lukas Rietzschel in ihr die trostlosen Seelen aller Figuren immer wieder von Anfang bis Ende, dazu in einem kargen, elliptischen Stil.
„Vater, der mit ihnen in die Tagebaue gefahren war. Alte Fabriken. Hoyerswerda, Weißwasser. Dieses ganze eingefallene, verlassene Zeug. Untergegangene, traurige Scheiße. Kein Mensch auf der Straße. Abriss und Leerstand. Aber Hauptsache raus, Hauptsache was unternommen. Damals dies, damals das. Tobias rümpfte die Nase. Die Schulen, die sie schlossen, die Sparkassen und Arztpraxen. Die Kreise, die sie zusammenlegten, die Gemeinden und Städte. Die Wege wurden länger, die Entfernungen größer.“
Eine grandiose Schau in Leben, die linksliberalen und höchst engagierten Bewohnern bunter, boomender, westdeutscher Großstädte unbekannt sein dürften. Letztere wiederum abstrahieren dann gerne von jahrzehntelangen biographischen Entwertungen und mangelnden Chancen im Osten, um sich dann lautstark zu empören über Protestwähler. Da leistet Rietzschel Verständigungsarbeit! Die Eltern von Philipp und Tobias bäumen sich sogar auf gegen die Trostlosigkeit – Vater Elektriker, Mutter Krankenschwester, – und bauen sich mit bloßen Händen ein eigenes Haus. Am Ende wird ihre Ehe scheitern, die Langzeitfolge eines aus den Fugen geratenen Sozialgefüges.
„Abschluss aberkannt, Umschulung, Umschulung, Weiterbildung. Zwischendurch hatte er durchgerechnet, ob er die Familie kurzzeitig vom Arbeitslosengeld hätte ernähren können. Sein Bruder war jetzt Altenpfleger, er Elektriker. Beide hatten ursprünglich Kupplungen gebaut.“
Lukas Rietzschel will keine Sozialreportage, in der vielleicht ein Hoffnungsschimmer aufleuchten würde. Er spitzt zu und lässt wirklich keine Figur unbeschädigt davonkommen. Einem alten Kollegen von Philipps Vater, Uwe, ist die Frau in den Westen abgehauen, er wird zum Säufer und schließlich zum Selbstmörder. Auch die Klassenkameraden von Tobias und Philipp wollen nicht geraten: Christoph, das einzige Kind, das in Neschwitz konfirmiert wird, wird genau deshalb nicht ernstgenommen und später noch schwul – das Abo auf das Weichei-Etikett. Felix wird sich in tschechischem Chrystal Meth verlieren. Marco futtert zu viele von den Nahrungsergänzungsmitteln, die sein Vater vertreibt. Es sind detaillierte, wenngleich zum Teil auch sehr typisierte Figuren.
„Marco hatte seine Haare wachsen lassen, jetzt trieben sie so gleichmäßig lang aus seinem Kopf, wie sie vorher abgeschoren gewesen waren. Er trug eines seiner Rammstein-T-Shirts, und aus seiner Dreiviertelhose mit den sichtbaren Nähten baumelten Dutzende Schlüsselbänder. Er war stolz darauf und streichelte sie wie ein Haustier. Tobi wusste genau, dass Marco ein Opfer war. Er stank und hatte dicke Pickel auf der Stirn und zwischen den Augenbrauen.“
Auch die Zeitgeschichte blitzt ausschließlich in Gestalt von düsteren Eckpfeilern auf, oder sollte man sagen: Zaunpfählen? Der elfte September und der Irakkrieg laden zu Antiamerikanismus ein, das Hochwasser in Sachsen steigert den Frust; die Anschläge von Hoyerswerda schweigen die Großeltern betreten tot, wenn man die verrußten Gebäude von damals passiert.
Und schließlich macht sich ein wachsender brauner Sumpf bemerkbar – dabei wirkt das Buch streckenweise wie ein etwas zu minutiöser Fahrplan: Hakenkreuzschmierereien, erst kleine, dann große; Geschimpfe über, Zitat, „Polacken“, später über Sorben; an der Schule „Sieg Heil“-Rufe, dann Hitlergruß; im Dorf umgeschmissene Kruzifixe, schließlich Brandstiftung; Politiker und Pfarrer: erst Autoritäten, dann, Zitat, „Clowns“, „Marionettenossis“, „Volksverräter“, „Gutmenschen“, „Ausländerfreunde“. Gerade von ihnen fühlen sich die Menschen allein gelassen, als Flüchtlinge ausgerechnet in derjenigen Grundschule untergebracht werden sollen, die mangels Geld vorher geschlossen worden war. Lukas Rietzschel hat allen, von den bloß Frustrierten bis zu den Neonazis, gekonnt aufs Maul geschaut.
„Dumme Menschen und Ausländer pflanzten sich schneller fort als normale und überhaupt Deutsche. Seit Sarrazin konnte es endlich jeder lesen. Wer ein bisschen nachdachte und die Augen offen hielt, hatte es längst bemerkt. An solchen Abenden sah man, wie sich die Assis und Kanaken in Scharen tummelten. Menzel zeigte auf sie und schien die Gruppen zu zählen. Jede seiner Beobachtungen teilte er Tobias gestikulierend mit. Es waren mehr Asylanten geworden. Von Jahr zu Jahr mehr, mittlerweile von Monat zu Monat. Wöchentlich landeten die Untermenschen am Strand von Sizilien.“
Solche personal erzählten Hassreden direkt aus den Köpfen der Radikalisierten gehören zu den stärksten Passagen. Sie arbeiten auch den dazu gehörigen, fast identisch klingenden Selbsthass heraus, der in den Medien oft zu kurz kommt. Denn die Neonazis pöbeln sich auch untereinander an – als „Süße“, „Emos“, „Spasten“ oder „fettes Stück Scheiße“.
Diese Passagen, auf die hin der Verlag das Buch auch vermarktet, kommen dramaturgisch leider ein wenig spät, der Text wird geradezu Opfer seiner braven Chronologie. Allzu klar ist das Buch zwar auf die Katastrophe hin geschrieben. Aber für einen Text, der tödlichen Fremdenhass erklären möchte, kommt die Tat der Neschwitzer Neonazis fast seltsam harmlos daher. Unterwegs nutzt sich die abgehackte Sprache irgendwann auch ab, wenn nicht gar unverständliche Bilder auftauchen:
„Immer wieder brachen dicke Äste im Inneren des Feuers und ließen den Haufen kurzzeitig zusammensacken wie einen aufgebrochenen Brustkorb.“
Ja, die Erzählhaltung findet einen Mittelweg zwischen Erklärung und Rechtfertigung. Und Lukas Rietzschel arbeitet detailreich heraus, dass der explodierte Hass auf Flüchtlinge im Osten jahrelange, tiefere Wurzeln hat. Aber die Perspektive wechselt so häufig, dass man die Figuren zwar begreifen, aber nicht nachempfinden kann. Das ist gerade bei diesem Thema am Ende schade, so verdienstvoll das Unternehmen auch ist.
Lukas Rietzschel: „Mit der Faust in die Welt schlagen“. Das Buch ist bei Ullstein erschienen, hat 320 Seiten und kostet 20 Euro.
Für das SWR2 Lesenswert Magazin.