Ein bisschen hat sich Helene Hegemann in ihrem neuen Roman zurückgenommen. Hier geht es um ein junges Mädchen, das den Ausstieg aus der Unterschicht schafft, und es herrscht weniger Wohlstandsverwahrlosung, weniger Hipster-Milieu-Sprech, weniger Drogen, Sex und permanente existentielle Abgrundstimmung als im Erstling „Axolotl Roadkill“ und dem Nachfolger „Jage zwei Tiger“. Aber der Hegemann-Sound ist unverkennbar.
Das klingt zunächst nach einer für Helene Hegemann eher untypischen Erzähldistanz, geht die Autorin doch in ihren Texten ohne Umschweife ins Geschehen: Charlie, eine junge Frau, erinnert sich an ihre ersten Lebensjahre in einer Siedlung von Mietskasernen mit Unterschichts-Bewohnern.
Doch die Autorin tastet sich natürlich nicht zart an ihre Hauptfigur heran, sondern zeigt uns schnell, hart und brutal ein junges Mädchen am Abgrund: Migrationshintergrund, die Eltern früh geschieden, die Mutter schizophren, ihre Psychosen scheinen mal von der Krankheit, mal durch die Alkoholsucht hervorgerufen. Charlie bleibt dann nur die Scham der ständig ängstlichen Co-Abhängigen: Die Mutter zur eigenen Sicherheit ins Zimmer sperren, die Situation vor den Nachbarn verschleiern, in der Schule erkennen müssen, dass sie als „Asi“ abgestempelt wird.
Charlies Ungewissheit mündet bald in suggestiv beschriebene Alpträume von Schwimmbecken voller Schlangen, in die Angst vor gleich mehreren Weltkriegen. Das sei mehr als Teenagerängste, das sei die „Tyrannei der Ungewissheit“, der wir alle ausgesetzt seien, sagt Helene Hegemann. Als wolle sie die Emblematik hier unterstreichen, sind einige Eckdaten vage gehalten; wir wissen nur, dass die Handlung in etwa nach der Jahrtausendwende in einer Großstadt spielt. Helene Hegemann:
„Ich glaube, was das Brutalste ist, das sind nicht die äußeren Umstände, sondern dass da jede Art von Grundvertrauen, was das Kind, entwickeln könnte, im Keim erstickt wird. Jeder Tag beginnt und sie weiß nicht, ob das ein guter Tag wird oder ein schlechter, ob eine Katastrophe passiert oder nicht und dieses Ausgeliefertsein, darum geht es, glaube ich, in erster Linie. Hat auf jeden Fall was mit so einem kriegsbedingten Ausnahmezustand zu tun, da steckt wahrscheinlich schon die Grundstimmung des kompletten Romans drin.“
Nichtsdestotrotz ist es grandios, wie Hegemann in den Kopf der Teenagerin schlüpft, wie sich fremdwortlastige Erwachsenensprache mit Jugendslang mixt, wenn Charlie sich erinnert. Wie ein mausgraues Mädchen mit Jungskörper zur Frau reift und plötzlich mit ihrer heimlichen Jugendliebe Pornos schaut. Wie sie erkennt, dass alles Soziale zum guten Teil aus Heuchelei und Fake besteht.
Und schließlich nimmt Charlies Leben eine Wendung: Mitten in der Siedlung sind Luxusbungalows architektonischer Exklusivität gebaut, und Charlie trifft auf ein faszinierendes, dekadentes Schauspielerehepaar, Georg und Maria, beide den Drogen und dem Alkohol nicht gerade abgeneigt. Erst stalkt Charlie die beiden, verliebt sich dann in sie, in ihren Glamour, in ihre Kreativität und Weltläufigkeit, und wird schließlich einen immer intimeren Kontakt mit ihnen haben… Schauspielerei, Kunst und Sucht überwinden die sozialen Barrieren – tief unten funktelt hier eine sehnsuchtsvolle, wenngleich morbide Romantik. Die Autorin erklärt:
„Das ist natürlich ein ganz interessanter Rahmen, diese Art von Viertel, wo Leute aus unterschiedlichen Schichten so eng nebeneinander koexistieren. Und wozu ich das auch unbedingt brauchte, das war natürlich auch, um da einen Vergleich zu ziehen zwischen einer elitären Verzweiflung und einer Asiverzweiflung oder fast so etwas Asi-Alkoholismus und Schickeriaalkoholismus, vielleicht sowas, dafür war das einfach nötig.“
Das alles hätte für ein intensives Kammerspiel schon gereicht. Aber Helene Hegemann pflanzt schier jeder Figur via Backstory apokalyptische Extreme ein: Georg etwa hat im Zivildienst beobachtet, wie sich eine Patientin aus dem Fenster stürzt und vom Balkongitter zerteilt wird. Insgesamt ist das blutige Hintergrundrauschen im Viertel von der Vordergrund-Handlung kaum zu trennen. Es beginnt sogar eine Selbstmordserie, zum Teil mit extravaganten Entleibungstaktiken. Sogar die Tiere werden nicht von Neurosen und Sadismus verschont: Da ist ein Hund so neurotisch, dass er sich in Tierkadavern wälzt und alte Ehepaare anrempelt, so erzählt es Helene Hegemann in ihrem Roman:
„Du kannst ja wirklich die Straße entlang laufen und zwangsläufig wird man da dem einen oder anderen Tierkadaver begegnen, manche Leute sehen es halt und es macht etwas mit ihnen – und manche Leute nicht. Aber das ist, glaube ich, alles doch ganz normale Härte. Ich glaube, die Selbstmordrate der 40- bis 60jährigen ist in den letzten Jahren tatsächlich massiv gestiegen, das heißt, dass das nicht unbedingt ausgedachte Provokationen oder Krassheiten sind, sondern das resultiert aus einer Grundstimmung, die ich wahrnehme und fiktiv zu verdichten versuche.“
Ein knallhart kalkulierter, permanenter Nervenzusammenbruch beim Leser. Was der Plot im Großen erzählt – dass Entferntes sich nahe kommt –, das spiegelt sich sprachlich auf der Satzebene wider. Die extremsten Gegensätze sind hier nonchalant verbunden. Von Maria etwa heißt es einmal: Sie hätte Kulturtheoretikerin sein können oder Chefin eines internationalen Drogenringes. Die Autorin erläutert dieses Stilmittel folgendermaßen:
„Das ist das Nebeneinanderstellen der Gegensätze. Also Sachen nebeneinander denken, die nicht zueinander passen und dadurch zu einer Synthese gelangen oder nicht, aus denen ein Gedanke hervorgeht, der über das hinausgeht, was man sonst zu denken genötigt wird. Aber ich finde, so ein Mafiaboss und eine Kulturtheoretikerin kann schon unter Umständnen etwas miteinander zu tun haben. Das, was es miteinander zu tun hat, herauszufinden, ist dann ganz es macht vielleicht ein paar Leuten, die es lesen, Spaß.“
Oft bleiben die Widersprüche auch rätselhaft und unheimlich. Wie beim Großvater von Georg, der leere Joghurtbecher sammelt und im Garten vergräbt. Es ist eben das Programm, das Leben als schreiende Verwirrung zu schildern, mit bombastischen, skurrilen Vergleichen und Aufzählungen. Mag sein, dass Helene Hegemann den Kulturmilieu-Sprech und das Distinktionsgehabe der Figuren im Vergleich zu den früheren Büchern reduziert hat. Der Sound ist immer noch eigen genug, etwas ganz Anderes zu sein als manch brave, gebändigte Literatur hierzulande. Helene Hegemann ist sich sicher:
„Würde ich was Gebändigtes veröffentlichen wollen, dann müsste ich gar nicht damit anfangen, das zu schreiben. Es macht sowieso keinen großen Sinn, ein Buch zu schreiben, darauf muss man sich jetzt auch mal einigen, das ist ja an sich ein sehr unverhältnismäßiger Vorgang, aber wenn man das tut, dann möglichst, um was Neues in die Welt zu setzen, eine neue Sichtweise, nicht nur einen Versuch einer Person, so zu tun, als sei ein Schriftsteller, der alles korrekt macht.“
Mag Charlie schlussendlich auch aus der Siedlung und dem Milieu herauskommen, mag das Ende also, sagen wir einmal, „gut“ sein – egal. Mag mancher, der eine brave Sozialreportage im Seite-drei-Stil der Zeitungen erwartet, erschlagen sein – geschenkt. Man sollte diesen intensiven Roman nicht auf den Plot hin lesen, sondern als Rausch, Alptraum, Bewusstseinszustand. Ein Erlebnis ist er ganz sicher!
Helene Hegemanns Roman „Bungalow“ ist bei Hanser Berlin erschienen, hat 288 Seiten und kostet 23 Euro – und hat es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft.
Für das „Lesenswert Magazin“ in SWR2.