Mehr als drei Jahrzehnte unter Verschluss gehalten, nun auch auf Deutsch erschienen: Michel Foucaults erhellende, minutiöse, aber bisweilen staubtrockene Studie zeichnet nach, wie Keuschheit und Geständniszwang in abendländische Klöster und Ehen Einzug hielten.
Das war die philosophische Sensation des Jahres 2018, egal, ob man in französische, deutsche oder angelsächsische Zeitungen schaute: Auf Französisch erschien endlich, nach mehr als drei Jahrzehnten, beim Verlagshaus Gallimard Michel Foucaults vierter Teil seiner Studien zum Themenkreis „Sexualität und Wahrheit“: „Lex aveux de la chair“. Der Autor starb 1984 kurz vor der Veröffentlichung, untersagte schon zu Lebzeiten die Veröffentlichung unveröffentlichter Werke.
Erst ein Wechsel bei den Erben machte die Publikation dann möglich. Es lag längst ein Typoskript des Verlags vor, das Michel Foucault noch 1984, schwer krank, mit Notizen versehen hatte. Frédéric Gros hatte diese Fassung ediert. Nun ist „Die Geständnisse des Fleisches“ auf Deutsch erschienen. Aber wie sensationell ist sie wirklich?
Bei dieser so genannten philosophischen Sensation assoziiert man schnell ein saftiges Buch mit „Stellen“. Weit gefehlt. Dieser Text ist wissenschaftlich, geradezu spröde! Andrea Hemminger übersetzt ihn korrekt, muss aber teilweise dem verschachtelten, prätentiösen Satzbau folgen. Französische Distinktion eben…
Inhaltlich knüpft Michel Foucault hier an seine Arbeiten zur antiken Lebenskunst und zum Gebrauch der Lüste an, schaut, was aus den heidnischen Prakiken sodann im zweiten bis vierten Jahrhundert im Frühchristentum wird. Er liest kanonische Autoren wie Clemens von Alexandria, Tertullian, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomos und Augustinus.
Und Foucault überrascht uns: Die Christen übernehmen wie selbstverständlich vielerlei pagane Praktiken von der Askese bis zur Jungfräulichkeit. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Christen dabei ihr Innerstes immer exzessiver überwachen. So erhält die Taufe beispielsweise bald eine Vorbereitungszeit voller Reinigungsrituale und Sündengeständnisse, hier übt der Christ ein, wie er auch nach der Taufe fleischlichen Gelüsten widerstehen kann.
Zitat: „Die Taufe muss vorbereitet, begleitet und in die Länge gezogen werden mit Operationen, die das Subjekt an sich selbst in Form der Abtötung oder in Gestalt des geistigen Kampfes in seinem Inneren vornimmt.“
Ähnlich rigoros entwickelt sich das Klosterleben: Weit entfernt von der Lehrer-Schüler-Beziehung der Antike, tötet man den eigenen Willen, die eigene Vernunft der jungen Mönche geradezu ab, „hackt“ deren Bewusstsein dadurch, dass sie ständig die kleinsten Vergehen gestehen müssen und sinnloseste Aufgaben erledigen dürfen.
Zitat: „Dies tat Abt Johannes, ein Held des Gehorsams, als sein Lehrer ihn ein ganzes Jahr lang zum Gießen eines ausgetrockneten, mitten in die Wüste gepflanzten Stocks schickte.
Die dabei entwickelten Selbstüberwachungstechniken darf der christliche Mainstream bald schmecken: in der „Kunst der Jungfräulichkeit“, bald ein Modell für die keusche Ehe. Hier halten sich die Ehepartner nicht einfach an Regeln, sondern kontrollieren ihre tiefsten Gefühlsregungen ständig und wachsam, disziplinieren sich fortwährend, um nur noch Sex zu haben, wenn Kinder gezeugt werden sollen, nicht aber aus bloßer Lust. Insbesondere das letzte Drittel des Buches wartet mit den skurrilsten, aber prägendsten Theorien des Augustinus auf: Ihm zufolge gab es zwar Sex im Paradies, allerdings gänzlich ohne die freche Libido, denn die macht den Sex erst sündig:
Zitat: „Es ist die unwillkürliche Form einer Erregung, die das Geschlecht zum Subjekt des Aufstands und zum Objekt des Blicks macht. Die sichtbare und unvorhersehbare Erektion.“
Das aufmüpfige Glied symbolisiert sozusagen den Menschen, der gegen Gott rebelliert. Nur ein keusches Leben, zumindest aber eines mit Sex ohne Lust, kann den Menschen in den Urzustand vor dem Sündenfall zurückversetzen. Nur diese permanente Arbeit an der Seele kann ihm das innigste Verhältnis zu Gott bescheren…
Sex im Paradies und sich regende Penisse – das scheinen die süffigen, aufregenden Höhepunkte des Buches. Widernatürliche Sexualpraktiken sind hier zwar ein wiederkehrendes Thema, werden aber kaum konkret benannt. Auch bei der asketischen Dressur der Mönche bleibt Foucault harmlos, obwohl gerade die christlichen Asketen so manchen Rekord in sinnfreien Tätigkeiten errungen haben. Den revolutionären, programmatischen, kühnen Wind aus „Die Ordnung des Diskurses“ – sucht man vergebens. Drehbuchreife Szenen wie aus „Überwachen und Strafen“, als der Attentäter Damiens gevierteilt wurde? Fehlanzeige.
Die begrifflichen Differenzierungen, die Foucault herausarbeitet, sind dafür oft so feinsinnig, dass die genaue Lektüre einer mönchischen Selbstkasteiung gleichkommt. Das liegt auch daran, dass sich Foucault von den Originaltexten wegschwemmen lässt: absurde Spitzfindigkeiten, Aufzählungen, blumige Metaphern, argumentative Sackgassen, all das paraphrasiert Foucault gerne weitschweifig, vereinzelt auch hochgestochen, obwohl es seiner eigenen Argumentation gar nicht unbedingt dient. Dem profaneren, ungeduldigen Leser empfiehlt sich daher, zunächst die Anhänge zu lesen. Sie geben einige zentrale Thesen verkürzt wieder. Der Jubel über das Buch lässt sich damit cum grano salis verstehen: Manche eifrigen, entflammten Leser hoffen, durch ihre öffentlichen Bekenntnisse werde wohl ein wenig heiliger Geist des Diskursanalyse-Kirchenvaters Foucault auf sie überfließen.
Denn angebliche hellseherische Bezüge in unsere Gegenwart, oder auch nur in die von Foucault, fehlen völlig. Natürlich gilt der Autor zu Recht als Großvater der Gender Studies. Und natürlich zeigt die Studie sehr konkret, wie Genderrollen festgeschrieben wurden – allen voran die der Frau als lockendes Weib, das sich zu Jungfräulichkeit zwingen muss. Die Verbindungen zu heute muss sich der Leser aber stets selbst dazudenken.
Wer will, findet natürlich Vorformen der MeToo-Debattenkultur im Buch – denn wie heute sollten auch damals die Sünder öffentlich gestehen und büßen, sollte man ohne jegliche Ambivalenz über Sex reden. Die medialen MeToo-Rituale zeigen einmal mehr, wie Praktiken zugleich befreien und disziplinieren können. Foucault wäre dann wohl ein Stachel im Fleisch des Netzfeminismus.
Und jeder meditationswillige Selbstoptimierer und Buddhismus-Konvertit erfährt bei Foucault, wieviel Achtsamkeit das Frühchristentum kennt – nur freilich mit einem moralinsauren Aroma, das herauszuschmecken ja Foucaults Hauptanliegen ist. Das Buch weist auf die fatalen Fortwirkungen hin:
Zitat: „Das mittelalterliche Christentum ist – vor allem ab dem 13. Jahrhundert – zweifellos die erste Zivilisationsform, die in Bezug auf die sexuellen Beziehungen zwischen Ehegatten derart weitschweifige Vorschriften entwickelt. […] die ganz genaue Kodifizierung der Momente, Initiativen, Billigungen, Ablehnungen, Stellungen, Gesten, Liebkosungen, […] Worte, die bei den sexuellen Beziehungen vorkommen dürfen.“
Ja, am Ende begreift der Leser, warum sich die Prüderei tief im Subjekt eingenistet hat. Aber stand das wirklich bislang in keiner Kirchengeschichte? Zumindest verpasst Foucault allem ein kritisches Framing. Und das ist wichtig in Zeiten, in denen manche pauschal „unsere christliche Tradition“ wiedererwecken wollen. Man sollte schon wissen, wieviel Unterwerfung und Wirrnis damit wirklich einhergeht.
Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit 4. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Erschienen im Suhrkamp Verlag. 400 Seiten kosten 36 Euro.
Rezensiert für das Lesenswert Magazin auf SWR2.