„Die Maske“: Rasant, dunkel und existentialistisch ist dieser Thriller geworden. Und das musste ja so kommen: Der 1977 in Tokai geborene Autor Fuminori Nakamura hat eigentlich Öffentliche Verwaltung und Staatsverwaltung an der Universität Fukushima studiert. Aber schon seine Abschlussarbeit schrieb er über „Die Psychologie des Kriminellen“.
2003 erschien dann folgerichtig sein Debut: „Ju“, „Pistole“. Mittlerweile lebt der Autor in Tokyo, hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht und dafür zahlreiche Preise in seiner Heimat erhalten; in Deutschland erschien bislang nur „Der Dieb“, für den es in Japan den Kenzaburo-Oe-Preis gab. Man könnte Nakamuras Bücher Thriller nennen, aber auch düstere, existentielle Parabeln; immer geht es um das Böse, um Schuld und Verbrechen, um unentrinnbares Schicksal. Das ist etwas gänzlich Anderes als das Klischee vom Japan als fröhlichesm und buntem Land quietschender Anime-Figuren und piepender Roboter. In Fuminori Nakamuras Krimi Noir „Die Maske“ aber ist es eine einzige Vorhölle. Natürlich gebe es die hellen Seiten von Japan, sagt der Autor.
Aber eben auch die dunklen. In seinem Roman geht es damit los, was der elfjährige Icherzähler Fumihiro eines Nachmittags von seinem angetrunkenen Vater in der Familienvilla hört: Nach Tradition seines schwerreichen und kriminellen Kuki-Clans will der alte Patriarch seinen jüngsten Sohn zu einem „Geschwür“ heranzüchten, das der Menschheit später maximalen Schaden zufügt. Nur so könne der Vater in seinem Hass auf die Welt befriedigt sterben. Fumihiro ist fassungslos, gerade erst hat er sich in seine Adoptivschwester Kaori verliebt. Die Antwort des Vaters: Wenn Fumihiro sich weigere, werde der Vater Kaori vergewaltigen. Fumihiro plant schließlich, diesen Übervater mit Giftpilzen zu ermorden. Und läuft gerade dadurch Gefahr, so böse zu werden, wie vom Vater vorherbestimmt… Fuminori Nakamura hat eine existentiell-moralische Zwickmühle entworfen – aus mehreren Gründen, sagt er.
„Etwa vor zehn Jahren gab es im japanischen Fernsehen eine Sendung, in der ein Oberstufenschüler die Frage gestellt hat: ‚Warum darf man eigentlich keinen Menschen töten?‘ Und das hat einen großen Wirbel verursacht, diese Frage. Das ist das Ziel des Romans, genau diesen Punkt zu erklären: Warum soll man einen Menschen nicht töten? Es ist zugleich eine Antwort auf den gegenwärtigen Terrorismus, der in der ganzen Welt immer wieder geschieht.“
Warum moralisch sein? Fumihiro gibt letztlich eine einfache Antwort: Wer einmal mordet, der wird innerlich so leer, kalt und freudlos wie Fumihiros Vater. Was tun? Fumihiros Seele ist zerrissen, der Kampf zwischen Vater und Sohn intensiv, die Jugendliebe zart und später leidenschaftlich. Das hätte schon für einen Roman gereicht! Aber Nakamura macht all dies zur Hintergrundstory, in Flashbacks mit spannenden Cliffhangern erzählt, und variiert alles in der erzählten Gegenwart.
Hier ist Fumihiro inzwischen erwachsen und hat den Kontakt zu seiner ewigen Liebe Kaori zunächst verloren. Er beauftragt Detektive, sie zu finden, entdeckt, dass sie von Gangstern bedroht wird, und will sie beschützen. Steckt womöglich wieder der Kuki-Clan hinter allem? Fumihiro tarnt sich also, und lässt sich sogar das Gesicht operieren. Dummerweise aber hat der tote Mann, dessen Identität er übernommen hat, offensichtlich früher Morde begangen, und schon heftet sich ein alter Polizist an Fumihiros Fersen…
Was ist das Selbst, was Maske? Wie prägen uns die Familie, frühere Traumata, ja, das Schicksal? Was tut man alles gegen das Böse und für die Liebe? Das sind die Grundfragen dieses überaus komplexen, aber nie verwirrenden Textgewebes. Wunderlicherweise hat Nakamura diese Geschichte beinah ungeplant geschrieben, erzählt der Autor!
„Je länger man schreibt, desto mehr konzentriert man sich auf das, was man gerade schreibt. Und das hat auch paradoxerweise zur Folge, dass man zugleich auch vergisst, was man eben geschrieben hat. Und es kommen neue Ideen hoch. Und so ist das ein ewiger Prozess des Sichveränderns. Es ist nicht so, dass ich von A bis Z schreibe, sondern dass sich alles konstant verändert.“
Aber Nakamura gerät nicht ins Mäandern. Karg, kräftig, stark nennt der Übersetzer Thomas Eggenberg diese Sprache und übersetzt sie hier im Interview ebenso stilsicher wie das Buch insgesamt. Der Roman ist kompromisslos düster, verzichtet allerdings auf platte, ausgewalzte Brutalität. Wenn Fumihiro die Männer, die Kaori verfolgen, mit Gift oder durch eine Bombe umbringt, erfahren wir das Ergebnis eher vermittelt, beispielsweise durch eingefügte Zeitungsartikel. Eine bewusste Entscheidung, sagt Fuminori Nakamura.
„Natürlich gibt es Gewaltszenen in dem Buch, aber im Wesentlichen denke ich, dass diese indirekte Art von Gewalt, von der man nur hört oder die man nur irgendwie erahnen kann, dass das genügt. Und dass das sogar die größere Wirkung hat!“
Zweifellos auch, weil viele Motive an japanische Literaturtraditionen anschließen: Einzelgänger und jugendliche Liebende aus reichen Elternhäusern wie beim Autor Yukio Mishima; tieftraurige Seelen hinter unberührten Masken wie beim Literaturnobelpreisträger Yasunari Kawabata, überhaupt der lauernde Selbstmord und das unabwendbare Schicksal wie in Osamu Dazais Nachkriegsklassiker „Gezeichnet“. Bei der Wahl dieser seiner Vorbilder ist der 40-jährige Nakamura wenig bescheiden.
„In Europa wären das Autoren wie zum Beispiel Kafka oder Dostojewski, Goethe… Bei allen diesen Schriftstellern gibt es diese Protagonisten, die verstrickt sind in ihre Gedanken und die eine Bürde mit sich tragen und damit leben müssen. Das ist ein gemeinsamer Ton oder ein gemeinsames Element dieser Schriftsteller. Und ich möchte, dass sich die Leute mit gewissen Problemen der Gegenwart beschäftigen, mit gewissen existenziellen Problemen, die nicht an bestimmte politische oder gesellschaftliche Bedingungen geknüpft sind, sondern ganz existenzielle Fragen! Und andererseits möchte ich mit meinen Romanen einfach auch unterhalten – und zwar gut unterhalten.“
Literarischer Feingeist und Lesbarkeit gehen hier nahtlos zusammen wie auch im übrigen Werk Nakamuras, in dem der Thriller „Die Maske“ für eine gewisse Eskalation steht: Der Roman „Der Dieb“, als erster ins Deutsche übersetzte Nakamura, war noch vergleichsweise harmlos: Ein Kleinkrimineller geriet dort in die Fänge der Mafia. In „Die Maske“ dagegen geht Nakamura darüber hinaus und findet das Böse auch in globaler Politik und Wirtschaft: Sein Erzähler Fumihiro wird bald herausfinden, dass sein älterer Bruder auch so ein soziales „Geschwür“ geworden ist: Als Waffenhändler und entfesselter Kapitalist zettelt er Bürgerkriege in Afrika an. Außerdem stiftet eine anarchistische Untergrundsekte in Japan Chaos, indem sie Politiker ermordet. Zu guter Letzt reicht die Geschichte der Kuki-Clan-Geschwüre zurück bis zu den Gräueltaten der Japaner im Zweiten Weltkrieg – Nakamura deutet an, dass die Traumata von damals in der japanischen Gesellschaft weiterleben. Kurzum, die Gewaltgeschichte pflanzt sich überall unablässig fort. „Die Maske“ liegt damit auf einem Weg, der in Nakamuras neuestem Roman, „Das Imperium R“ den bisherigen Höhepunkt erreicht, sagt der Autor:
„In diesem Buch geht es eigentlich genau darum: um die Auslöschung der Welt. Es erinnert ein bisschen auch an das berühmte Buch von George Orwell, 1984.“
„Das Imperium R“ gibt es noch nicht auf Deutsch, aber man hofft, dass der Diogenes Verlag nun alle Romane von Nakamura übersetzen lässt. Dann können wir verfolgen, wie der Autor sein Lebensthema zuspitzt: das radikal Böse, dem niemand entrinnen kann. In „Die Maske“ zumindest tötet Fumihiro noch für das Gute – um noch schlimmeres Unheil zu verhindern. Ein Bildungsroman und moralischer Thriller, eine Kapitalismuskritik, eine Nationalseelen-Vivisektion, die uns sagt: Es gibt kein gutes Leben im Bösen.
Fuminori Nakamuras Buch „Die Maske“ wurde aus dem Japanischen übersetzt von Thomas Eggenberg und ist bei Diogenes erschienen. 352 Seiten kosten 24 Euro.
Für SWR2 Lesenswert Magazin.