Verstopfen bürgerliche, lebensuntüchtige Autoren die Schreibstudiengänge und gar den Buchmarkt? Vor Jahren brach um Fabian Hischmanns Debut „Am Ende schmeißen wir mit Gold“ eine solche Diskussion los. Nun hat der Autor einen neuen Roman vorgelegt – hat er aus allem gelernt?
Fabian Hischmann wurde 1983 in Donaueschingen geboren und studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an den klassischen Ausbildungsorten des Literaturbetriebs, Hildesheim und Leipzig und hat auch schon Autorenstipendien und Schreibwerkstatt-Teilnahmen ergattert. Und darauf zielte denn auch die Kritik einer Feuilletondiskussion 2014, die sich an Hischmanns Erstling entzündete, der immerhin für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Hauptfigur war damals ein spätadoleszenter, 29jähriger Lehrer, der plötzlich ins Erwachsensein katapultiert wurde. Und jetzt?
„Das Umgehen der Orte“ beginnt eigentlich sehr zielgerichtet, wenngleich auch schnell die erste Katastrophe einbricht: Fabian Hischmann erzählt die Geschichte von Lisa, einem korpulenten Mädchen, dessen biedere Kindheit in den Nullerjahren ein jähes Ende findet, als sich ihr Vater bei einer bizarren Selbstbefriedigung versehentlich umbringt. Abgeklärt und pointiert serviert uns der Autor die Konsequenzen, Zitat:
„Ihre Mutter entdeckte Wolle für sich. Lisa entdeckte Snickers. Beide gingen zum Psychologen. […] Ihre Mutter brauchte länger und länger für die Pullover, weil Lisa immer schneller mit den Schokoriegeln wurde.“
Das ist gekonnt! Familie perdu, es folgt die Wahlverwandschaft mit der frisch nebenan eingezogenen Anne, anziehender Gegenpart mit Jeans, Doc Martens, Liebe zu Punkbands. Zusammen rauchen die beiden heimlich in ihrem Versteck vor der örtlichen Kläranlage. Anne jedoch wird nie begreifen, wie sehr Lisa sie liebt, bis sie eineinhalb Jahrzehnte später nach Island fliegt, wo Lisa mittlerweile mit einer Frau verheiratet lebt.
Hischmann kreiert sinnliche Bilder: Lisa mag die Kälte, erinnert sich an Winterstürme mit ihrem Vater; abgeklärt steht sie später in Island an einer Klippe. Die gefühlsblinde Anne wird ein Glasauge haben. Das nimmt für den Roman ein: Leitmotive, Wiederaufnahmen, Figuren-Spiegelungen, sprechende Symbole, wenngleich auch manchmal etwas sehr deutlich; die Gefühle des Erwachsenwerdens, die Suche nach verlorenen Lebensfäden, das Zurückblicken.
Das größere Bild dieser nahen Zukunft bis 2020 zeigt sich in gewitzten Ideen: George Clooney ist in dieser Mediengesellschaft US-Präsident; ökologische Katastrophen deuten sich durch ein Vogelsterben an. Aber schade: Es sind leider nur wenige eingestreute Randnotizen – und nicht das einzige Problem des Romans.
Mehr bröckelt, wenn Lisa Annes Eltern abends bei skurrilen Sexritualen mit Augenbinden, Schwertern und Wassermelonen beobachtet – durchs Fenster. Bleibt der Autor anfangs noch nah an den personal erzählten Hauptfiguren, fühlt sich alles in der Folge wie durchs Schaufenster beguckt an.
Denn in Lisas und Annes Handlung bricht Magnus ein. Ein ins Internat gestopfter Sitzenbleiber, der wie ein Frettchen aussieht. Man kennt sich aus dem Deutsch-LK. Magnus bandelt mit Anne an. Zusammen betonieren die drei nachts die Löcher auf einem Golfplatz zu, der Magnus‘ Eltern gehört und am Tag für ein Benefizturnier bereitstehen müsste. Der Streich gelingt, aber die Wege werden sich trennen.
Insgesamt wird der Roman in Zürich, Melbourne, Hessen, an der deutschen Küste, in Portland, in Gedanken in Rio und Barcelona, irgendwie auch im Geiste Berlins und im Bermuda-Dreieck spielen. Und Magnus ist nur die Vorhut eines gleichförmigen Reigens an jungen, verlorenen, meist männlichen, mal homosexuellen Männern, die schlaglichtartig an uns vorbeiziehen. Die Freundeskreise überschneiden sich hier und da. Wahlverwandschaften, so der Anspruch, scheinen die Familien des 21. Jahrhunderts, sind aber auch zerfressen von Distanz, Streit und Unverbindlichkeit. Wo etwas klappt, zerstört es das Schicksal.
So treten auf: Samuel, Filmer und Schriftsteller, dessen Roman später nur zum Hit wird, weil Samuel ertrinkt – ob im pathetischen Selbstmord, weiß man nicht. Tim, in eine Affäre mit einer Mutterfigur verstrickt. Dylan, ein zielloser Schriftsteller, der mit Samuel Sado-Maso-Spiele durchzieht. Sie wirken allesamt austauschbar.
Kolja, Henrik und Jonas, Theo und Florian, Möchtegernfußballstar Robin oder Taxifahrer Philip ziehen auch noch am Leser vorbei. Thomas schwängert Anne, hier schreckt der Leser hoch, aber erstens stürzt Thomas zu Tode und und zweitens verliert Anne sowieso ihr Kind. Wäre noch Max Flieger aus Hischmanns Debut, der jetzt allein im Haus seiner toten Eltern abhängt – oder gleich in der Psychiatrie.
Die Episoden sind ineinandermontiert, was ein wenig kaschiert, dass die Figuren nicht sehr berühren. Einmal rät eine Figur bei Problemen zu schneller, erneuter Konfrontation – so verarbeite man alles besser. Es scheint wie das künstlerische Motto dieses Anekdoten-Sperrfeuers.
Dabei kommentiert Hischmann seine Generation durchaus mal sympathisch selbstironisch, zum Beispiel in Niklas, der freiwillig in einer Seehundaufzucht-Station arbeitet. Ein Heuler (!) stirbt ihm buchstäblich unter der Hand weg, ebenso wie ihm schon früher ein Küken im Ei (!) verfaulte. Schließlich lebt Niklas seine verdrängte Homosexualität aus, lernt im Park Lennart kennen – und geht mit ihm Bier in einem Kiosk klauen, was Lennart „ganz schön pubertär“ (!) findet.
Und Hannes, ein ewiger Filmstudent, wird von seinem Professor gefragt, ob die Welt noch einen Film über das Erwachsenwerden brauche – hier zwinkert uns der Autor höchstselbst in seinem zweiten Roman über verfaulende Spätpubertierer verschwörerisch zu.
Hannes belauert auch die Wohnung seines Regie-Idols Gus van Sant. Bis dieser bildschirmsozialisierte Youngster merkt, dass Beschattungen langatmig sind und nicht spannend wie in Filmen. Wie seine eigene Drehbuchfigur reißt er sich in einem erratischen Moment nackt vor dem Spiegel Brusthaare aus und legt sie sich auf die Zunge. Der Geschmack seiner Unreife dürfte fade sein.
Positiv vermerkt werden sollte aber, dass sich die Popkulturreferenzen in Grenzen halten. Metafiktion kommt eher durch das Buch von Samuel vor, das sich viele Figuren gegenseitig schenken. Der Anekdotenreigen endet wie im Nebel, mit einem Funkspruch aus der Fiktion in der Fiktion: Nick Cave hat auf seinem Boot die Orientierung im Bermudadreieck verloren.
Kein generelles Coming-of-Age, sondern eine bürgerliche lost generation der Ersten Welt. Kein Generationenporträt, denn junge Maschinenbauer aus München dürften nicht so lebensuntüchtig daherkommen. Wie auch in Hischmanns Debut tritt hier kaum jemand aus dem Schatten der Eltern. Nicht einmal hinterfragt dieses kunsthypnotisierte Akademikermilieu endlich mal, wie und warum es so dermaßen ferngesteuert agiert durch bildungsbürgerliche Werte, deren Nichterfüllung theatralisch tief gefühlt wird. Das gewichtigste Problem bleibt offenbar die spieltheoretische Gretchenfrage, ob alle nach Berlin gehen sollen, weil es da dann ja voll wird.
Hat der Autor das gewollt – Figuren, die wirken, als existierten sie nur im austauschbaren Herdenmodus? Ein Lesegefühl, als folgte man 30 Messenger-Konversationen gleichzeitig? Die Schauplätze scheinen wie touristische Phantasien der Figuren. Ihr Umgehen der Orte jedenfalls bleibt ein Umgehen des Lebens. Das könnte durchaus ein ästhetisches Programm sein. Aber damit es durchschlüge, wäre doch mehr emotionale Anteilnahme beim Leser nötig.
Für „Forum Buch“ in SWR2.