Was wäre, wenn man mehrere Leben hätte und immer wieder von vorne beginnen kann? Tristan Garcia, geboren 1981 in Toulouse, spielt das durch und begeistert mit einem existentialistischen Science-Fiction-Roman.

Der Autor gilt als intellektuelle Stimme seiner Generation, schließlich hat der Lyoner Philosophiedozent mit seinen Essais „Das intensive Leben“ und „Wir“ die Grundprobleme der Erlebnisgesellschaft herausgeschält. Nun Aber auch als Romanautor feiert er Erfolge; für seine neun Bücher ist er schon vielfach ausgezeichnet worden. In ihnen mischt er grundlegende Fragen mit einem Hauch Phantastik. So auch im neuesten Buch „Das Siebte“, das nun auf Deutsch erscheint:

Ein gutbürgerliches Leben, ja gut, aber eben auch so furchtbar durchschnittlich. Will man daraus nicht am Ende flüchten? Aus dem, das uns der namenlose Icherzähler in Tristan Garcias Roman „Das Siebte“ beschreibt? Der Erzähler erlebt eine Kindheit in der französischen Provinz, Internat in Paris, eine geistreiche Freundin, schließlich einen Beamtenjob, zwei Kinder, Vorstadt-Häuschen, die Frau stirbt mit 50 an Krebs, und schließlich naht auch das eigene Lebensende, alles irgendwann in unserer Gegenwart.

Wäre da nicht dieses seltsame Erlebnis, als der Erzähler einmal als Kind ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo ihm ein Arzt zuraunte: Du wirst noch oft wiedergeboren werden! Und tatsächlich: Als der Erzähler Jahrzehnte später stirbt, kommt er wieder als Kind auf die Welt, zur selben Zeit wie damals, im selben Elternhaus, und alles beginnt von vorne – und zwar insgesamt sieben Mal! Geradezu hollywoodreif setzt der Roman mit einem Vorgriff aus dem siebten Leben ein.

In der Tat erinnert das Szenario an Streifen wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ – aber ist viel existentieller! Denn es rührt an die grundlegenden Fragen: Würde eine solche Unsterblichkeit glücklich machen? Wieviel können wir bestimmen im Leben? Würden uns andere Rollen, andere Umgebungen, andere Entscheidungen zufriedener machen? Geben uns Wiederholungen Halt – oder liegt das Glück im ewigen Neubeginn?

Denn unser Icherzähler erlebt sieben radikal verschiedene Leben, weil er nach jedem Tod alles anders machen will: Mal wird er ein Krebsforscher, um seine Frau zu retten, mal revoltiert er als Aufständischer gegen die Welt, mal lebt er resigniert dahin, mal ergötzt er sich an Frauen, Drogen, Partys, sogar an Morden, mal versucht er sich als Provinz-Messias. Auf unheimliche Weise lebt er unsere geheimsten Wünsche aus und verkörpert ikonische Helden und Anti-Helden der Menschheits-Geschichte: Religionsstifter, Forscher, Sozialrevolutionäre, Amoralisten wie de Sade – und es ist ironisch bis bitter, dass er damit doch fast nichts am Lauf der Welt ändern kann.

Tristan Garcia schafft ein brutal indifferentes Universum, das weder belohnt, noch straft. Sein Held durchleidet einen sartreschen Ekel, einen Dekadenz-Ennui, ein hiobartiges Aufbegehren, eine enttäuschte Wissenschaftsgläubigkeit – so schmerzlich, dass man seinen Tod, seine Erlösung, oder zumindest eine Erklärung für sein Schicksal geradezu herbeisehnt.

Doch die verweigert uns Tristan Garcia konsequent. Mal ersinnen seine Figuren zwar verschwurbelte, angeblich naturwissenschaftliche Deutungen, zu kurz und unbefriedigend, um das Buch als ernstzunehmende „Hard Science Fiction“ zu klassifizieren; mal wünscht der Erzähler, dass die Literatur sein Leiden lindert, weil er glaubt, eine Romanfigur zu sein, die sich aus dem ermüdenden Kreislauf herauskatapultieren kann, indem sie ihren eigenen Tod selbst schreibt – ein vergebliches Hoffen auf die Wunder der literarischen Postmoderne…!

Und das alles offenbart noch nicht einmal das wahre Ausmaß von Garcias motivischem Irrgarten. Eigentlich nämlich war „Das Siebte“ im französischen Original nur der siebte Teil eines dicken Buches namens „Sieben“, wenngleich der ambitionierteste. Die sechs anderen Texte darin, irgendwas zwischen Fabeln, Novellen oder Romanen, spiegelten Motive aus dem letzten Text, es ging um unheimliche Vorhersagen, Drogen und Gegenwelten. Dieser verrätselte Kristall voller untergründiger mythischer Bezüge erhielt 2016 den Preis des Radiosenders France Inter. Schade, dass den deutschen Lesern das komplette Buch entgeht!

Nur die Sprache ist zwar elegant, aber recht einfach auf Lesbarkeit hin geschrieben, ohne eigenständige Kreativität. Birgit Leib hat dennoch eine süffige Übersetzung besorgt.

Der Roman „Das Siebte“ ist großartig und eine filmreife Absage an alle Hoffnungen, die Welt zu verstehen. Er eilt mit Cliffhangern und Überraschungen auf ein atemberaubendens Ende zu. Und wir ahnen: Selbst sieben Leben bleiben so erratisch wie ein einziges. Und womöglich würden uns mehr Zeit und mehr Wahlmöglichkeiten nur in eine noch größere Verzweiflung stürzen.

Tristan Garcia: Das Siebte. Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Leib. Erschienen bei Wagenbach. 304 Seiten kosten 24 Euro.

Rezensiert für die Lesenswert Kritik auf SWR2.