Es gibt Etiketten, die sind in die Haut eines Schriftstellers so fest implantiert wie Biochips. Gerade bei William Gibson, dem Autor des Science-Fiction-Klassikers „Neuromancer“, dem großen literarischen Propheten des Cyberspace, Entwickler der Idee einer „Matrix“, Pionier des Cyberpunk-Genres. Und heute?Viel Zeit ist vergangen, seit Gibson das Subgenre Cyberbpunk schuf, jene Unterart der Science-Fiction, die mehr Dystopie als Utopie ist, in der zefallene Nationen und abgehalfterte Cyborgs vorkommen, in der technische Erfindungen vor allem von machthungrigen Großkonzernen gewinnbringend ausgeschlachtet werden wollen. Obwohl Gibson sich selbst nie als reinen Science-Fiction-Autor sah, weil er die Konventionen des Genres immer wieder brach, konnte er seinem Etikett nie ganz entfliehen. Mit dem neuen Roman „Quellcode“ wird es auch fragwürdig, meint Pascal Fischer, der sich mit dem Autor über sein Werk unterhalten hat.
In den Neunziger Jahren war die Amerikanerin Hollis Henry die Sängerin einer Kultband, doch schnell kamen Auftritte aus der Mode, weil Musik überall digital verfügbar wurde. Die zweite Karriere als Musikjournalistin stellt sich nun für die Hauptfigur in „Quellcode“ nicht recht ein. Da kommt ihr der Auftrag eines geheimnisvollen PR-Magnaten namens Hubertus Bigend gerade recht: Sie solle eine Magazinstory über digitale Kunst schreiben. Generös finanziert Bigend ihr die Recherchereisen auf mehreren Kontinenten, hält sich selbst aber sicher im Verborgenen. Nicht von ungefähr: Schnell merkt Hollis, dass sie eine große Story verfolgt, aber auch in den Dunstkreis weltweit agierender, gefährlicher Verbrecher gelangt ist. Bei ihren Interviews mit Künstlern trifft Hollis auf einen Hacker, der das GPS-Signal eines Containers über die Weltmeere verfolgt. Was im Container steckt, ist unklar. Aber eine Reihe von zwielichtigen Gestalten verfolgt ihn: Bobby, ein autistisches Computergenie. Brown, ein skrupelloser US-Geheimagent, der sich den armen Streuner Milgrim mit Drogen zum gefügigen Helfer macht. Tito, Mitglied einer chinesisch-kubanischen Untergrundorganisation, die verhindern will, dass der Container den Agenten zufällt – gleichen sie doch eher Terroristen denn redlichen Staatsdienern.
Das ist keine Science-Fiction mehr, das ist ein sehr gegenwärtiger Thriller, wenngleich auch mit gibson-typischen, extravaganten Figuren, durch deren Augen der Leser abwechselnd blickt. Passagenweise rasant und spannend ist der Perspektivenwechsel. Aber von Hollis Henrys Innenleben zwischen verblasstem Ruhm, unerfüllten Träumen und Verbrecherhatz hätte man gerne mehr gelesen.
Seine Fans beglückt Gibson mit allerlei technischem Spielzeug, doch ein Gefühl technologischer Utopie kommt kaum auf:
Zitat S. 7: „Der […] Roboter war aus Lego. Weiße Legosteine, darunter eine ungerade Anzahl weißer Räder mit schwarzen Reifen. Auf der Rückseite waren Dinger angeschraubt, die wie Solarzellen aussahen.“
…GPS-Steuerung inclusive. Weitere Gags: Projizierte Orientteppiche im Hotelaufzug und magnetische Schwebebetten. Ganz selbstverständlich recherchiert Hollis bei Google und in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia.
William Gibson: „Ich stoße im wahren Leben auf solche Dinge und importiere sie in meine Erzählkunst. Und dann empfinde ich eine ironische Befriedigung, weil ich weiß, wie real viele Dinge sind. Der Abstand zwischen der realen Welt und der Science-Fiction wird immer kleiner. Wenn ich mir etwas ausdenke, bauen die Leute das doch schon im nächsten Jahr. Meine Methode ist der literarische Naturalismus. Ich zeichne die seltsame und fantastische Welt, in der wir leben. Und diese Welt ist ständig neu. Jede Beschreibung, die das nicht berücksichtigt, ist automatisch traditionell und altertümlich.“
Das GPS-Netz, auf dem der mysteriöse Container im Buch verfolgt wird, gibt es ebenso wie die zweite Kernidee des Romans, die „Locative Art“, eine Art digitale Graffiti-Kunst. Deren Akteure ziehen ein eigenes virtuelles Netz über die Welt und platzieren dort virtuelle Skulpturen. Mit Spezialbrillen sieht man beispielsweise mitten in der Stadt, wie die Hand einer scheinbar versunkenen Freiheitsstatue aus dem Straßenpflaster ragt. Mit vielen ähnlichen Bildern ironisiert der heute 60jährige Gibson die vergessenen Visionen, die er selbst vor fast einem Vierteljahrhundert schuf: den Cyberspace, eine computergenerierte Lebenswelt, mal der Realität, mal der Phantasie nachempfunden (no ideals whatsoever…). In seinem Roman „Neuromancer“ aus den 80er Jahren verkabelte Gibson das Hirn (seines Protagonisten?) direkt mit dem Rechner, in der Realität der 90er Jahre brauchte man einen Datenhandschuh und Bildschirmbrillen. Seit Jahren, bemerkt Hollis einmal lakonisch, habe sie nichts mehr von der „Virtual Reality“ gehört.
William Gibson: „Der Cyberspace, wie wir ihn vor 20 Jahren konzipierten, ist in einer triumphalen Weise hinfällig geworden. Wir leben längst in einem digitalen Konstrukt. Wenn wir alle drahtlosen Vorgänge um uns sehen könnten, wäre alles unglaublich aktiv. In diesem Sinne leben wir im Cyberspace. Wir brauchten die virtuelle Realität, um zu visualisieren, wohin wir uns bewegten. Wir sind doch längst dort, wo wir damals hingingen.“
Diese Welt allerdings ist marktgesteuert, darauf besteht Gibson nach wie vor. Mal unterschwellig hämisch, mal nüchtern enttarnt er die hochfliegenden Träume der New Economy ebenso wie die sonstige Science-Fiction und Fantasy, die sich stets in einem luftleeren Raum ohne Markt und Staat zu bewegen scheint. Hollis begegnet Leuten, die T-Shirts mit den Namen abgestürzter Dotcom-Firmen tragen; ständig springen den Leser angebliche Markenprodukte an, vom Ipod bis zu schwarzen „GSG9-Stiefeln“ von Adidas.
William Gibson: “Ich habe das gegen diese naive Form von Science-Fiction entworfen. Das ist doch immer so eine prämarxistische Vision, in der eine Figur ein Schwert hat, aber offensichtlich keinen Job, um das Schwert bezahlen zu können. Ich habe mich immer gefragt, wie die Erde im Star-Trek-Universum aussieht. Das scheint eine komplett marxistische Gesellschaft zu sein, niemand muss da arbeiten, es gibt kein Geld, und der Staat scheint wie fortgezaubert…!“
Nicht bei Gibson: Geheimagenten der USA jagen den mysteriösen Container, unter ihnen ein ehemaliger Blackwater-Söldner aus dem Irak. Gibson übt damit eine scharfe, aber bisweilen auch platte Kritik an George Bushs Patriot Act und dem Irak-Feldzug: Die US-Bevölkerung habe ihrer Regierung gegenüber ein Stockholm-Syndrom entwickelt, heißt es einmal. Und der drogensüchtige Milgrim räsonniert:
Zitat S. 169: „Wenn die Moralvorstellungen eines Individuums situationsabhängig sind, hat dieses Individuum keine Moral. Wenn die Gesetze einer Nation situationsabhängig sind, hat diese Nation keine Gesetze und ist bald keine Nation mehr.“
Trotzdem umgeht der Roman die Gefahr, in einen krampfhaften, politischen Zeitgeist-Roman abzugleiten. Die allseits wabernde Paranoia mag seit dem 11. September 2001 zugenommen haben, so die Diagnose zwischen den Zeilen. Geschaffen wird sie aber durch die neuen Medien. Mini-Wanzen überwachen hier den SMS-Verkehr, auch Hollis fürchtet mitten im Buch, selbst verfolgt zu werden, weil sie ihre Handygespräche nicht verschlüsselt hat. Alle im Buch bespitzeln sich gegenseitig. Nicht zufällig entwirft das Locative-Art-Genie des Romans, Bobby, eine riesige virtuelle Krake – Datenkrake, möchte man sagen. Hoffte so mancher Kulturphilosoph in den 80er Jahren noch auf unendliche Simulationen als Spielplätze des kommenden postmodernen Menschen, so fühlt sich Hollis in ihrem 21. Jahrhundert einfach nur noch nervös, gehetzt und gläsern.
Ein paar Abwehrstrategien bietet der Autor in seinen Figuren an: Hollis gibt es Halt, Kleidung von den richtigen Marken zu tragen. Der Agenten-Sklave Milgrim flüchtet sich in Drogen, die ihm leider Hieronymus-Bosch-artige Visionen bescheren; Tito, ein faszinierender junger Mann innerhalb eines kriminellen Clans, hält sich an die afrikanisch-kubanische Religion der Santería. Wenn Tito von Brown verfolgt wird, dann vertraut er seine Reflexe Geistwesen an, die ihn führen.
William Gibson: „Tito ist einzigartig. Wie er reagiert – das steht für das limbische System, den größten und ältesten Teil unseres Gehirns, jenseits von Sprache und Logik. Daraus bestehen wir zum größten Teil, können da aber nur selten direkt heran. Vielleicht klingt das romantisch, aber ich träume von einer Art Weisheit des limbischen Systems!“
Das ist eine radikale Abkehr von den Verheißungen des Cyberspace: Einst träumten die fortschritts- und technikbegeisterten Pioniere davon, ihr Bewusstsein auf eine Festplatte kopieren zu können und eine körperlose Unsterblichkeit zu erlangen. Tito dagegen folgt einer alten Naturreligion und seiner Intuition, die wie eine Weisheit des Körpers scheint. Das dürfte Gibsons alten Fans kaum schmecken. Sie dürften ohnehin enttäuscht sein, dass der Plot am Ende nicht mit größenwahnsinnigen Weltverschwörern, schreckenerregend dreckigen Cyberpunk-Dystopien oder nie gesehenen Technologien endet – und dass die Hauptfigur Hollis letztlich nur eine Beobachterin bleibt.
Schlussendlich geht es um Geld, Habgier und schmutzige Geschäfte im Irak. Böse und banal zugleich, ein sarkastischer Schlenker, den man mögen muss. In den Achtziger Jahren ließ sich William Gibson von ein paar putzigen Apple-Macintosh-Computern inspirieren – und schuf aus diesem geradezu armseligen Anschauungsmaterial ganze digitale Welten. Er skizzierte, wie sich künstliche Intelligenzen untereinander und mit dem Menschen messen würden. Dagegen fällt „Quellcode“ ab: Harmlos und glatt beschreibt das Buch, was es schon gibt. Das einstige Wunderkind der Science-Fiction ist im Jetzt angekommen. Hoffentlich ist dieser Zukunftsmangel nicht zukunftsweisend.
(für SWR2 Forum Buch)