Die Religionssoziologie hatte es sich in den vergangenen Jahrzehnten leicht gemacht: Immer areligiöser werde die abendländische Gesellschaft. Der junge Soziologe Pascal Siegers meldet Zweifel an.

Er hat ein zuweilen arg statistisches, aber im Kern spannendes Buch geschrieben und gezeigt, wie irreführend die sogenannte Säkularisierungstheorie ist, die Religiösität vorschnell mit Kirchgänger-Zahlen gleichsetzt.

„Mit diesem Instrumentarium ist sie nicht in der Lage, Entwicklungen zu identifizieren, die jenseits der Kirche laufen. Sie ist dahingehend in Teilen gescheitert, wobei sich ja die religiöse Individualisierung und die Säkularisierung nicht ausschließen. Sie können ja parallel laufen!“

In der Tat mögen einige Menschen areligiös sein. Andere allerdings sind religiös, gehen aber nicht in die Kirche. Und schließlich findet sich die Gruppe der alternativ Spirituellen: Ihr Anteil an der Bevölkerung liegt in den europäischen Gesellschaften bei um die 10 Prozent. Sie sind offen für transzendente Erfahrungen, wollen diese aber selbst interpretieren und gestalten. Nur über solche abstrakten Haltungen konnte Pascal Siegers sie erfassen, diese Menschen zwischen Chakren-Meditation, Schamanismus, Naturreligiösität, Pendeln, Energieheilen, Reiki…die Grenzen sind fließend.

„Ob man jetzt immer den gleichen spirituellen Weg weitergeht, ist dabei nicht entscheidend. Es geht nicht darum, ob eine spezielle Praxis für immer ausgeübt wird, also Yoga, Ayurveda oder irgendetwas, sondern es geht darum, dass mit einer bestimmten Motivlage kontinuierlich ein Glauben konstruiert und rekonstruiert wird.“

Das Faszinierende am Buch ist, dass die alternativen Spiritualitäten eine Schlüsselkategorie bilden in einer neuen Theorie der religiösen Wahl. Frühere Ansätze konnten zwar erklären, dass Individualisten eher alternativ-spirituell wurden und sich von den Kirchen distanzierten, sie konnten aber nicht erklären, warum diese Menschen nicht gleich zu Atheisten wurden. Pascal Siegers löst das Problem geschickt mit einem zweistufigen Modell: Erst entscheidet sich – durch Tradition oder Familie – ob überhaupt ein Gefühl für eine Transzendenz besteht: eine Bauchsache gewissermaßen. Erst im zweiten Schritt vergleicht der Religiöse seine Bedürfnisse rational mit den Angeboten der Kirchen. Die neuen religiösen Bewegungen stehen gar nicht so abseits der Kirchen, wie es auf den ersten Blick scheint.

„Was spannend ist an meinen Analysen: Dass die Leute, die spirituell geworden sind, dass die als Jugendliche oder Kinder eine große Nähe zum kirchlichen Milieu hatten. Viele sind auch noch Mitglieder einer Kirche. Und das bedeutet, dass es keine Inkompatibilität in den Milieus gibt. Sondern: Man kann vielmehr sagen, dass die alternativen Spiritualitäten sich tendenziell aus dem religiösen Milieu heraus entwickeln, was ja plausibel ist: Die Begriffe, die man braucht, die müssen ja irgendwo herkommen. Und das findet sich auch in meinen Analysen. Die erste Generation alternativ Spiritueller war in ihrer Jugend religiös.“

Atheist wird also, wer keinerlei transzendentes Bauchgefühl kennt. Wer es kennt, entscheidet dann nach Ausprägung des Individualismus. Fühlt man sich in normierten, traditionellen Glaubensvorstellungen geborgen, wählt man eher eine Kirchenreligiösität. Lehnt man religiöse Autoritäten und kirchliche Hierarchien ab, nicht aber die Tradition an sich, wird man zum berüchtigten U-Boot-Christ: der taucht allenfalls zu Weihnachten oder Ostern in der Kirche auf. Erst, wer auch die eigene religiöse Tradition als zu starr und für sich unpassend empfindet, wird zum alternativ-spirituellen Baumeister der eigenen Religion. In den traditionell katholischen Ländern Europas weniger als in Nord- und Westeuropa, in denen der Protestantismus stark ist. Hier liegt der Gedanke schon in der Luft, dass jeder selbst für seinen Glauben verantwortlich ist. Verdrängen werden die alternativen Spiritualitäten die traditionellen Kirchen allerdings kaum, meint Pascal Siegers.

„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es jetzt doch die spirituelle Revolution gibt, dass es eine massive Verbreitung alternativer Spiritualität gibt, aber es kann durchaus sein, dass sie jetzt dauerhaft zur Pluralisierung des religiösen Feldes beiträgt.“

Pascal Siegers: „Alternative Spiritualitäten. Neue Formen des Glaubens in Europa. Eine empirische Analyse“ ist im Campus Verlag erschienen. 373 Seiten kosten 39 Euro 90.