Fortsetzung folgt: Christian Kracht hatte sich vergangene Woche in seiner Frankfurter Poetikvorlesung geoutet als Opfer sexueller Gewalt. Nun zeigt er auf, wie die Form der Parodie gegen das Trauma hilft – wenn sie nicht vielleicht doch die Frankfurter Poetikvorlesung selbst unterläuft!Was ein Geistlicher da in einem kanadischen Eliteinternat mit Kracht getan hat, scheint das gesamte Werk von Kracht umzudeuten – von einem verspielten postmodernen Autor zu einem Gezeichneten und Gepanzerten und wider Willen Unterkühlten. Am vergangenen Samstagabend nun hat Christian Kracht seine zweite Poetikvorlesung in Frankfurt gehalten. Und erschien als Opfer, Literat, Literaturtheoretiker, Autobiograph in eigener Sache.
Es war ein wenig irritierend: Auf dem Lesungs-Plakat draußen dieses Polarkreis-Forscher-Gesicht, hollywoodesk raubeinig. Wenige Meter daneben im Uni-Café in der Sonne daneben: Christian Kracht, entspannt, wiewohl stilvoll in Hemd und Pulli.
Und in der Barbour-Jacke, als er schließlich in den Hörsaal tritt. Am Pult dann wieder diese leise, schüchterne Stimme, als wolle er noch einmal bekräftigen: das Etikett des großspurigen Popliteraten könnte schwachsinniger nicht sein.
Und diesen zerbrechlich-tastenden Ton wird er nicht ablegen. Dabei ist er anfangs im Vortragsaufbau inhaltlich ganz Profi: Er zieht über das „verrohte und verrohende Berlin“ her und erntet Lacher – und geht dann schonungslos in das Geständnis über: Seine Selbstmordmethode sei vermutlich eher das Springen, nicht aber das Erschießen, Erhängen oder Ausbluten in der Badewanne. Und dem erstarrt lauschenden Publikum ist klar: Die vergangene Veranstaltung war nur der erste Akt in diesem Stück.
Kracht ertastet, warum er seiner Erinnerung nicht traute. Denn es gab ja auch gleichfalls skurrile Erinnerungen wie seinen Albinohasen oder an den Nachbarn, den Playboy Gunther Sachs, der dem Jungen Gasmaske, Helm und Bajonett aus der Schweizer Armee schenkte.
Und es gab Vieles, was den Jungen seiner Wahrnehmung misstrauen ließ: Die gezinkten Würfel, mit denen sein Vater jedes Brettspiel gewann. Und den Selbstmordversuch der Mutter, mit Alkohol und Schlaftabletten, den diese später leugnete und behauptete, die Kinder hätten sich alles ausgedacht.
Die Rettung kommt ihm durch Bücher entgegen, genauer: In Form der Parodie oder eines Störmoments, eines unpassenden Details, das „awkwardness“ erzeugt: das Gefühl von Peinlichkeit, Verdutztheit über die vermeintlich falsche Wahrnehmung, meisterhaft erreicht in den Gedichten von T.S. Eliot, als ästhetisches Programm adaptiert von Christian Kracht, wie er anhand eigener Texte belegt – nicht, ohne mehrfach fast zu demütig zu betonen, er sei selbst nur Kopist, Dieb, Zitator.
Die Parodie bricht den Ernst heilig-kanonischer Texte – ein Anti-Trauma-Programm geradezu:
Im Vortrag macht Kracht das selbst vor, spricht von Robbe-Grillet und dann fast übergangslos vom MAD-Magazin, erntet damit Wohlwollen vor schier jedem Menschentypus im Saal, der knallig-rothaarigen Literatursalon-Dame, dem Dandy in grünen Samthosen, dem beidarmig Tätowierten, der Frau mit dem violettgrünen Haar, dem Durchschnittsstudi in T-Shirt und Bluejeans.
Und mit der „awkwardness“ nimmt Kracht seine Vergangenheit an und distanziert sich gleichzeitig: Ja, er gibt sich da als Protagonist einer Literaturlesung, nippt am Wasserglas, nestelt vergessen in den Vortragszetteln und ja, er ist quasi hineingeboren in den elterlichen Bücherschrank voller Sinclair, Dos Passos, Kishon, Roth, Mann, Marquez – aber auch: Simmel. Ja, zu Hause kamen Otto Graf Lambsdorff und Ähnliche zu Besuch – halt halbseidene Gestalten. Ja, er war auf dem Eliteinternat Schloss Salem, aber das sei eine „dystopische Sammelstelle“ für „die Erziehung zur Intoleranz“; der typische Schulkamerad habe dann doch nur die Toilettenfirma des Vaters übernommen.
„Alles ist reif für Parodie, auch diese Vorlesung!“ sagt Christian Kracht schon relativ früh, aber gilt das für alles an diesem Abend?
Meint er das so, der im ernsten Tone spricht, wenn er seherisch und geheimnissvoll von „Quantenpseudotelepathie“ spricht? Ist das ein poetischer Vergleich? Oder ernstgemeinter, aber kaum ernstzunehmender Pseudowissenschaftsquark. Das erinnert an den wilden Ritt durch Philosophie und Hinduismus in der Dankesrede zum Wilhelm-Raabe-Preis 2012.
Ist es Parodie, dass die Vorlesung zu fast einem Drittel aus dem Vorlesen von T.S. Eliot-Gedichten besteht, so ergreifend das auch ist? Schließlich ist nach einer guten Dreiviertelstunde schon Schluss – also einer halben regulären Vorlesung, aber immerhin einer ganzen TV-Serienfolge. Offenbar will Christian Kracht auch das Ritual der eineinhalbstündigen Vorlesung parodistisch unterlaufen.
Nicht immer ist die Vortragsrichtung klar, und das bekennt der Dichter am Ende mit einem Zitat von T.S. Eliot, sinngemäß: Gegen seine biographischen Ruinen kann Kracht nur Fragmente aufbieten und dennoch Kunst und Heilung erreichen. Beim Herausgehen, beim erneuten Blick auf das Plakat, wirkt dieses Gesicht noch mehr wie ein Überlebender.
Das war noch nicht das Ende. Christian Kracht hat da wohl einen neuen Veranstaltungstyp kreiert: Die existentialistisch-poetologische Vorlesung … mit Cliffhanger!
In kürzerer Version für das SWR2 Journal.