Schnelllesen ist Trend, neuerdings via Apps mit den unterschiedlichsten Techniken. Das alles funktioniert aber nur begrenzt, und führt die eigentlichen Ziele des Lesens ad absurdum. Ein Selbstversuch.

(Eigentlich muss man diesen Beitrag hören, am Besten auf der Sendungsseite des SWR2 Lesenswert Magazin.)

Der Trend greif schon seit geraumer Zeit um sich: das Schnelllesen. Auch „Speed reading“ genannt, oder auch visual reading. Je nach Methode soll man lernen, quer, diagonal oder einfach doppelt und dreifach, ach was, zehnfach so schnell zu lesen wie vorher. Und eben entsprechend so viel Inhalt wie vorher ins Hirn bekommen, das verstehen und behalten und – mitreden können! Waren es früher noch Bücher, später Lernvideos im Netz, in denen diese Techniken vermittelt wurden, gibt es mittlerweile Apps für das Smartphone. Wie funktioniert das also, funktioniert es überhaupt, und was sagt der Wunsch nach Turbo-Input über uns alle aus?

 „Moinsen!“

sagt der Macher der App ‚Simpleclub“,

„… stellt euch mal vor ihr könntet doppelt so schnell lesen wie jetzt. Wie geil wär das denn?“

Ja, wie „geil“ wäre das, was die App Simpleclub da verspricht? Zugegeben, die Idee klingt verlockend:
Als Vater, Freiberufler und Hobby-Theaterspieler jongliere ich mühsam meine Termine und würde gerne trotzdem mal wieder ganze Bücher am Stück lesen – nicht nur Kapitel und Artikel. Wäre es da nicht gut, meine „Buch-per-Tag-Quote“ zu steigern? Sogar auf 1?!

Und ich bin angefixt, besorge mir ein paar Bücher zum Thema Schnelllesen, und bin erstmal irritiert: Bis zu 1000 Worte pro Minute soll ich schaffen! Das Ziel klänge in meinem Kopf dann so:

(beschleunigtes und komplett unverständliches Kapitel aus Thomas Manns Zauberberg)

Ja, da wird so richtig sinnlich erfahrbar, wie gekonnt Thomas Mann die Zeit zu dehnen vermag, oder…? Wobei… strenggenommen soll sich das Speedreading sogar eher so anhören:

(Stille)

Stille! Denn ich soll die „Subvokalisation“ unterdrücken, also diese minimale, unwillkürliche Zungenbewegung, das murmelnde Mitlesen im Kopf – das empfehlen viele Schnellleseratgeber.
Wie Rotraud und Walter Uwe Michelmann in ihrem Trainingsbuch „Turbolesen“ aber schreiben: Wir brauchen dieses innere Mitsprechen, um Sätze nach Sinneinheiten zu strukturieren. Schließlich flüstern Leseanfänger nicht umsonst alles mit. Dieser Trick ist also nichts für mich.

Ähnlich aussichtslos sei die „Blickspannenerweiterung“: Man vergrößere durch Training den Bereich, mit dem die Augen etwas scharf sehen können. Konkret heißt das: Man würde spezialisierte Zellen in der Netzhaut wachsen lassen! So ein Quatsch!

Aber was ist mit dem „Scanning“? Mit schierer Willenskraft die Augen über die Seite ziehen – diagonal oder lotsenkrecht in der Seiten-Mitte von oben nach unten. Achtung, hier kommt die erste Seite von Sasa Stanisics Herkunft:

(Selbstgelesenes, zerstückeltes Zitat Sasa Stanisic, Herkunft)

Und – haben Sie alles verstanden…? Den Rhythmus der Sätze angemessen goutiert? Noch mehr verspricht – mit 25000 Wörtern pro Minute – das „Photo Reading“ des Amerikaners Paul R. Scheele. Wer‘s glaubt, wird scheel. Das ist, also wolle man ein Bodenmosaik anschauen und bretterte deshalb mit dem Pflug drüber. Irgendwas bleibt natürlich hängen, aber das hat dann eher die Tiefe, mit der die Website „bento“ Goethes „Faust“ in einem neckischen Literaturquiz zusammenfasst:

„Ein Wissenschaftler schließt einen Pakt mit einem Hund, weil er unzufrieden mit seinem Leben ist. Alles geht schief.“

Speedreading, das erkannten 2016 amerikanische Forscher, funktioniert nur begrenzt.

Ich muss also schon Wort für Wort in den Textmarathon. Und da haben Apps eine Lösung gefunden.

Zeitraubend sind ja vor allem die minimalen Zuckungen der Augen, mit denen der Blick über eine Zeile zuckelt. Bestimmte Apps übernehmen da die Führung des Auges, bei „Outread“ zum Beispiel blinken nacheinander Worte auf. Oder sie zeigen, wie auch bei „Spdr“, nur jeweils ein Wort in der Bildschirmmitte an – Blickschweifen adé! Der Effekt ist verblüffend, ich kann gleich doppelt so schnell lesen. Nur zurückspringen im Text ist ein bisschen schwierig….

Und ich muss immer noch durch den ganzen Text. Dabei könnte ich ja auch intelligent lesen, wie der Psychologe Martin Krengel im Netz vorschlägt:

„Zum einen kannst Du schauen: Was ist nur Verpackung? Du kannst Beispiele überspringen, wenn Du das Prinzip schon verstanden hast…“

Überblick verschaffen, Textstruktur verstehen, selektiv Passagen lesen – das sind die erlesensten Tipps, die ich finde. Allerdings kommt mir das sehr bekannt vor, von früher. Man nannte das doch mal.. Studierfähigkeit! Klar ist auch: Das gilt für Sachbücher. Sonst wär‘s ja witzlos…

(Komprimierte Lektüre vom Anfang und vom Ende des Zauberberg:)

„Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos…blätter…ok, wie geht es aus? Ah, erster Weltkrieg, er verschwindet…ok, das war‘s….“

Und wenn mir selbst das zu stressig ist? Da hilft wiederum Blinkist, die vielleicht bekannteste App zum Eintrichtern von Inhalten: Hier gibt es Zusammenfassungen von Büchern wahlweise zu lesen oder zu hören. 15 Minuten für 200, 400, 1000 Seiten? „Der Staat“ eines gewissen Platon klingt dann so:

„Warum sollten uns antike Philosophen irgendwas Relevantes über unser Leben erzählen können? Schließlich war die Lebenswelt komplett verschieden zu unserer heutigen!“

Kostbare Zeit wird verplempert mit Fragen und schulmeisterlicher Heranführung einer eher bildungsfernen Zielgruppe. Überhaupt geht es eher um Sachbücher aus Sparten, in denen gerne dürrer Inhalt auf Buchlänge aufgeblasen wird – die Zusammenfassungen sind dann nicht schwer.

„Kein Limit! – Körpersprache, Macht, Erfolg! – Neurolinguistisches Programmierung für Dummies! – Manipulation und Manipulationstechniken. – Liebe kann alles! – Marktzyklen meistern! – Richtig reich! Service-Glück!“

Am Ende meines Speedreading-Selbstversuches bin ich ernüchtert. Der Schnelllesetrend ist doch letztlich auch wieder nur der Sog der Selbstoptimierung. Und damit sind wir bei des Pudels Kern: Bei all dem Schnell-Lese-Methoden-Gefuchtel tritt auffällig in den Hintergrund, warum wir eigentlich so viel lesen wollen. Es geht nicht um Wissensdurst, es geht ums Mithaltenwollen. In einem immer rasanteren Lese-Ratten-Rennen – befeuert durch das Turbolesen. Nur, um ArbeitskollegInnen in Grund und Boden zu quatschen oder beim Partysmalltalk Bildung vorzutäuschen. Das intime Lesen als Steigbügel zum pseudointellektuellen Schwanzwedeln, und das auch noch in aller Öffentlichkeit! Wohin soll das noch führen – zu Bestsellern wie „Die Entdeckung der Schnelligkeit“ oder „Chronik eines angekündigten Sprints“? Eine Buchbulimie: Inhalte reinziehen – und auskotzen!

Doch es naht Abhilfe. Covid19 – eine dramatische, traurige Entschleunigung, die, bei allem Ernst der Lage, doch ein Gutes bringt: Vorbei ist die ohnehin elende extravertierte Herdenmenschlerei draußen in Kneipe, Kino, Disco, Fußball, Theater und eben im Büro, wo man mit Angelesenem angibt. Bald herrscht flächendeckender Hausarrest. Da ist sie dann: die Zeit und Muße, ganze Bücher zu lesen, was bleibt dann schon Anderes übrig? Wie meinte schon Blaise Pascal:

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Ich füge hinzu:

„…und ein Buch so langsam zu lesen, wie sie möchten“.

 

Zusammengehechelt für das SWR2 Lesenswert Magazin.