Die vergangenen zwanzig Jahre sind in der Geschichte vermutlich einmalig gewesen: Noch nie hat ein einziges Land eine derartige globale Machtfülle besessen wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Doch das Irak-Fiasko und die Finanzkrise haben den Führungsanspruch der USA in Frage gestellt. Und mit Indien, China oder Brasilien schicken sich aufstrebende nichtwestliche Länder an, in einer multipolaren Welt mitzubestimmen. „Der Aufstieg der anderen“ ist der Titel eines Buches, das diese neue Machtkonstellation analysiert. Autor Fareed Zakaria, ein indisch-stämmiger Journalist für Newsweek international und CNN, tut vor allem eines: Er beruhigt die Amerikaner und schlägt moderate Töne an, wenn er von einer neuen Rolle der USA spricht. In den USA wurde der Bestseller schon als Blaupause für die Außenpolitik der neuen Regierung gelesen – nicht zufällig erspähte man Barack Obama wohl auch mit dem Buch unter dem Arm. Pascal Fischer hat sich mit Fareed Zakaria unterhalten.

Sputnikschock, Ölschock, Angst vor japanischen Autos, Furcht vor chinesischen Billigwaren  – alle zehn bis zwanzig Jahre, so scheint es, werden die USA geradezu paranoid. Abseits aller militärischen Gefahren in der Welt glauben sie dann zusätzlich, ökonomisch unter die Räder zu kommen, weil ihnen eine oder mehrere Wirtschaftsmächte den Rang abzulaufen drohen. Alarmistisch geschriebene Bücher warnen dann erneut vor dem Untergang des Abendlandes. Nun schickt sich Fareed Zakaria an, die Amerikaner zur Abwechslung einmal zu beruhigen.

“Die postamerikanische Welt” lautet der amerikanische Originaltitel übersetzt – und der deutsche Untertitel. Dieser für Amerikaner beunruhigende Ausdruck ist glücklicherweise eine Mogelpackung. Amerika, so Zakarias Szenario, werde also die Führung in einer “uni-multipolaren” Welt einnehmen, geradezu zwangsweise wegen seines militärischen und wissenschaftlichen Vorsprungs.

„Ich habe das Buch geschrieben, um den Amerikanern zu sagen: Die Welt ändert sich, neue Machtzentren sind im Aufstieg begriffen. Bekämpft das nicht, leugnet das nicht, verschließt Euch nicht. Ihr müsst in dieser Welt bestehen. Natürlich hat Paranoia auch etwas Gesundes. Sie motiviert zu nötigen Reformen. Bis vor Kurzem etwa war die amerikanische Wirtschaft nicht so globalisiert. Es war eine riesige Binnenwirtschaft. Deutschland beispielsweise ist als Exportnation ganz anders aufgestellt. Die USA sind ein riesiges Land zwischen zwei schwachen Nachbarn und zwei Ozeanen. Da ist es einfach, fett, dumm und glücklich zu werden!“

Übertriebene Ängste aber widerlegt Zakaria mit einem ganzen Strauß an Argumentationen, der sich historischer Beispiele ebenso wie aktueller Analysen bedient.

Ein ganzes Kapitel widmet er dem beliebten Vergleich der USA mit dem Britischen Empire. Oft bemühen Politiker und Journalisten ihn, um vor der Machtüberdehnung und wirtschaftlichen Implosion der USA zu warnen. Zu Unrecht, wie Zakaria zeigt: Großbritannien war nie auch nur ansatzweise über so lange Zeit wie die USA eine Weltwirtschaftsmacht. Und selbst jetzt, verstrickt in eine Finanzkrise und zwei Kriege, brechen die USA nicht zusammen.

“Die USA werden es weiterhin schaffen, das Zentrum der Welt zu sein. Das sieht man in der gegenwärtigen Finanzkrise. An wen wenden sich alle Länder denn? Nicht an Gordon Brown oder Angela Merkel, sondern an Barack Obama. Weil die USA immer noch eine enorme ökonomische Macht haben und koordiniert und schnell handeln können. Nicht, dass die USA weiterhin so außerordentlich dominant und mächtig sein werden. Amerika wird die Welt nicht mehr so dominieren können wie in den vergangenen 20 Jahren. Aber im Vergleich zu anderen Ländern spielen die USA in einer eigenen Klasse.”

Den ökonomischen Vorsprung würden die USA schon deshalb nicht einbüßen, weil beispielsweise China die USA schlicht nicht einholen kann, wenn beide Länder mit den gleichen Raten wachsen wie in den vergangenen Jahren, rechnet Zakaria den Panikmachern vor.

Indien sieht Zakaria als strategischen Partner der USA, wegen seiner geopolitischen Lage und seiner kulturellen Ähnlichkeit zu den USA: Beide Länder seien offene, chaotische Demokratien. Freilich werde Indien in den nächsten Jahrzehnten weiterhin ökonomisch hinter China hinterherhinken.

Irritierend fasziniert gibt sich der Autor stellenweise, wenn er von der undemokratischen und deshalb schnellen und effektiven Wirtschaftspolitik der Chinesen schreibt. Aber weder Indien, noch China und auch nicht Europa werden den USA in den nächsten Jahrzehnten das Wasser reichen können, schließt Zakaria. Wie kein anderes Land locken die USA durch ein hervorragendes Universitätssystem Köpfe ins Land. Kein anderes Land hat etwas Ähnliches wie den amerikanischen Traum zu bieten. Wie kein anderes Land profitiert die amerikanische Demographie von der Einwanderung, während Europas Alterspyramide Kopf steht.

Amerika solle seine Macht nicht mehr so arrogant missbrauchen wie zu Zeiten der Bush-Regierung, empfiehlt Zakaria.

„Die große Herausforderung besteht also für die USA darin, sich in der Außenpolitik umfassend für neue Regeln für die internationale Gemeinschaft einzusetzen, Regeln, an die alle sich halten, auch die USA! Obama scheint das sehr gut zu verstehen. Aber in Washington hat man sich sehr an die imperiale Macht gewöhnt. Das Establishment will den ‚Change‘, aber nur theoretisch, nicht praktisch. Das konnte man sehen, als Obama, kaum im Amt, gleich Gegenwind bekam, weil er mit den Taliban oder dem Iran sprechen wollte. Obama sollte das als Zeichen sehen, dass er wirklich Dinge bewegt. Ich hoffe, er macht mehr Druck.“

Zakaria votiert sympathisch für eine US-Außenpolitik, die zuhört, statt zu diktieren; die Zivilgesellschaften in aller Welt aufbaut, statt militärisch zu intervenieren. Er skizziert ein Amerika, das sich nicht imperial wie Großbritannien, sondern wie Bismarck im 19. Jahrhundert begreift: als Drehkreuz, „global broker“, als Vermittler. Schließlich haben die USA mit den meisten Mächten bessere Beziehungen als diese untereinander. Hätten die USA einmal ihre moralische Macht wiederhergestellt, müssten sie nicht ständig und überall Weltpolizei und Weltgericht spielen, sondern könnten internationale Körperschaften die multipolare Weltordnung ausbuchstabieren lassen.

Manchmal mangelt es Zakaria leider ein wenig an sprachlicher Sorgfalt, etwa bei Behauptungen wie der, dass es bald keine Dritte Welt mehr gebe. Oder etwa, wenn Zakaria Venezuela ganz im Bush-Slang als “Schurkenstaat” beschimpft. Oft reiht der Autor Beispiel an Beispiel. In vielen Argumentationen baut Zakaria zur Beruhigung seines amerikanischen Publikums überspitzt schwache Gegner auf, wo es starke Konkurrenz gibt: Er nennt beispielsweise den Vorsprung der USA gegenüber China, was die Hochtechnologie angeht, verschweigt aber, wie nahe die Europäer sind. Nicht ganz zu Unrecht wurde Zakaria vorgeworfen, eine Art Überidentifikation mit seiner Wahlheimat zu vollziehen.

“Ich bin ein Immigrant und bringe diese Perspektive auch in mein Buch ein. Ich sehe das außerordentliche Versprechen dieser Nation. Blendet mich das? Ich weiß sehr wohl, was es heißt, kein Amerikaner zu sein. Und ich glaube übrigens, Obama hat ähnliche Qualitäten. Wenn er an Muslime denkt, denkt er an seinen Vater oder seine indonesischen Klassenkameraden; bei Afrika denkt er an seine afrikanischen Verwandten. Dieses Verständnis anderer Länder ist sehr wichtig. Das kann man nicht in der Schule lernen. Die USA profitieren enorm von Obama. Er weiß, wie die Welt für Nichtamerikaner und Außenseiter aussieht!”

Die Lektüre führt untergründig ironisch auch vor, wie die USA in den vergangenen 60 Jahren unermüdlich für den Freihandel gekämpft haben, mal mit lauteren, mal mit unlauteren Mitteln. Lange glaubte Washington offenbar, keinerlei wirtschaftliche Konkurrenz zu haben, und legte den Grundstein für den “Aufstieg der anderen”. So einige früher gegängelte Länder dürften sich über diese Pointe der Weltgeschichte freuen. Und der Leser darf ein Buch genießen, das die Panikmache und die marktgängige Zuspitzung auf eine grelle, übertriebene These scheut. Zakaria bringt stets mehrere Faktoren ins Spiel, hat dennoch ein verständliches populäres Sachbuch zur politischen Ökonomie der Zukunft geschrieben. Man möchte hoffen, dass seine Vorschläge in Washington beherzigt werden.

Rezensiert für „Forum Buch“ in SWR2.