Thomas Pynchon liebt die Verschwörung. Und widmet sich endlich dem Medium, das heute alles durchdringt: dem Internet. In Pynchons neuem Roman deckt eine Schnüfflerin einen Betrug in der New Yorker Startupszene im Jahre 2001 auf. Und als sei das nicht genug, kombiniert der Meister dieses Thema mit dem Schock des 11. September 2001. Geht der Themenmix aus „Bleeding Edge“ gut?
Vorbei die Zeiten, als Maxine Tarnow-Loeffler noch mit staatlicher Lizenz Finanzverbrechern nachstellte. Nach einem Missgeschick ermittelt sie nun auf eigene Faust meist hinter Kleinganoven her, wenn sie nicht als überbesorgte jüdische Mama ihre Kinder zur Schule bringt. Gleich zu Anfang spielt ihr ein alter Freund Informationen über eine Internetfirma mit windigen Geschäften zu. Schnell wird aus dem Wirtschaftskrimi ein Noir mit erotischen Geheimagenten oder einer Leiche, an der ein Rudel Hunde nagt. Und schnell verliert man den Überblick, aber egal, denn das hier ist süffig. Subkulturell bewandert gibt sich Pynchon, wenn die Band „Elvis Hitler“ vorkommt oder auch skurril, wenn wir eine Kreuzfahrt für Borderliner miterleben. Auftritt Maxines Verwandschaft, der Exmann, Nachbarn, das dostojewskihaft überladene Figurenkabinett gilt es letztlich zu genießen als Sittengemälde des Siliziumzeitalters: Eric, Hacker und Fußfetischist; ein Privatdetektiv, der Gerüche erschnüffelt; diverse, verrückte Internetfirmen. Höhepunkt ist eine Nerdparty in New York, 2001, kurz vor den Anschlägen aufs World-Trade-Center. Hier fließen Melancholie und Megalomanie ineinander, hier lebt Pynchon seine barocke Lust auf Schilderung und Diagnose voll aus.
„Obgleich die Dotcomblase, einst ein spektakulärer Ellipsoid, jetzt als zusammengefallener rosaroter Ballon am zitternden Kinn der Ära hängt und vielleicht nicht mal mehr einen Rest schalen Atems enthält, hat man keine Kosten gescheut. Das Thema der Veranstaltung lautet offiziell «1999», hat aber einen dunkleren Subtext: Verdrängung. Bald wird deutlich, dass alle für diesen einen Abend so tun, als befände man sich noch in den Phantasiejahren vor dem Crash, als tanzte man im Schatten der damals so gefürchteten, inzwischen längst im Schoß der Geschichte geborgenen Zeitenwende Y2K, die sich dieser einvernehmlichen Selbsttäuschung zufolge allerdings noch gar nicht ereignet hat, sodass alle Anwesenden eingefroren sind in jenem Aschenputtelaugenblick zur Mitternacht am Ende des Jahrtausends […].“
Treffend beschreibt Pynchon den Nerd-Humor, etwa auf T-Shirt-Aufschriften wie
„Lara Croft hat ein Polygonproblem“.
Oder
„Sterbt, Microsoft-Würstchen!“
Dunkle Eminenz der Party ist Gabriel Ice, eine Verkörperung aller Versprechen der virtuellen Welt, ein Jung-Milliardär, den die Illustrierten gerne porträtieren in seiner Biberfilz-Fedora. Gegen ihn ist Bill Gates ein Charismatiker; trotzdem hängen die Jünger an seinen Lippen, wenn er visionär schwadroniert: von Serverparks, die zur Kühlung im Packeis stehen werden, umringt von Wohncontainern der Techniker.
„Von Kuppeln geschützte Ortschaften in der Tundra. Meine Geekbrüder! Die Tropen mögen ja ganz okay sein für billige Arbeitskräfte und Sextourismus, aber die Zukunft liegt im Permafrostboden. Das ist der neue geopolitische Imperativ: Wir müssen die Kontrolle über den natürlichen, unschätzbar kostbaren Rohstoff Kälte erlangen – das wird angesichts der globalen Erwärmung von umso größerer Bedeutung sein …“
Das ist die elektrisierende Grenze des digitalen Fortschritts, die „bleeding edge“, an der „IT-Samurai“ kämpfen, während der Rest von uns in der „Fleischwelt“ herumgammelt. Diese beachtliche Milieustudie zeigt leider auch Schwächen: Geradezu grundschulartig referieren die Figuren die militärischen Anfänge des Internets. Überhaupt zeugt es von wenig Visionskraft, nach einem Jahrzehnt die Utopien von damals zu sezieren, zudem mal mit sachlicher Unschärfe oder krasser Übertreibung, etwa bei futuristischen Bandbreiten für das untergrundartige Startup namens „deep archer“. Gleichzeitig werden diese Fehler verzeihbar, weil Pynchon an diesem Projekt das Netz als Großmetapher für unsere Gegenwart zeichnet: als militärisch-zivilen Zwitter, als Tummelplatz von echten Menschen und deren narzisstischen Masken, als Underground und Überwachungsstaat zugleich. Deep Archer wirkt wie das damals populäre „Second life“, eine einzige Gegenwelt: es lässt sich auch „departure“ lesen, im Sinne einer Abreise aus der Realität. Hier treffen sich die Träume der Literatur und des Netzes. Nur, um dann vom elften September fast beiläufig eingeholt zu werden, wodurch das Buch fast in zwei Hälften zerfällt.
„Maxine geht in Richtung Büro, will in einem Zigarettengeschäft eine Zeitung kaufen und bemerkt, dass alle aufgeregt und zugleich niedergedrückt wirken. Downtown ist irgendwas Schlimmes passiert. «Gerade ist ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht», sagt der Inder hinter der Theke. «Was, ein Sportflugzeug?» «Eine Passagiermaschine.» O-oh. Maxine geht nach Hause und schaltet CNN ein. Und da sieht sie es. Aus schlimm wird schlimmer. Den ganzen Tag lang.“
Viel wichtigtuerische Politisiererei wurde literarisch mit diesem Ereignis betrieben. Auch Pynchon beschreibt etwas pflichtschuldig das Meer an patriotischen Flaggen im linksliberalen New York, lässt seine Figuren etwas platt die Twintowers als Tempel der Kapitalismusreligion deuten, beklagt aber auch, dass „Ground Zero“ eigentlich ein Begriff aus dem kalten Krieg sei, das den Einschlagsort von Atombomben beschreibt. Eine Sprachverwahrlosung sondergleichen kreidet er da Politik und Medien präzise an. Und erkundet ein weiteres Opfer der Anschläge: den postmodernen Humor. Der steht plötzlich als „dämliche kleine Hipsterironie“ da, einen Schritt entfernt von „Auschwitz-Witzen“, erklärt eine Freundin von Maxine.
„«Als hätte die Ironie, […] unters Volk gebracht von einer kichernden, trippelnden Fünften Kolonne, die Ereignisse vom 11. September eigentlich sogar herbeigeführt, indem sie das Land an hinreichendem Ernst gehindert und so sein Verständnis von der ‹Realität› geschwächt hat. Daher muss alles, was nur scheinbar wahr ist, dran glauben – abgesehen natürlich von den Wahnvorstellungen, an denen das Land jetzt schon leidet. Von jetzt an hat man alles wörtlich zu verstehen.»“
Vielerlei Verschwörungstheorien referiert Paranoiapapst Pynchon dann noch und badet in seiner Lieblingsemotion. Doch am Ende laufen alle Fährten ins Leere und kreieren dann doch ein unüberschaubares Chaos. Milieustudie, Noir, Familienroman, Spracherkundung…Das Buch will ziemlich viel, nur das gebildete Gagfeuerwerk rettet am Ende die Leselust. Pynchon mag den Tod der Ironie diagnostizieren, in seiner eigenen Ästhetik ist sie unausrottbar. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft „Deloitte and Touche“ wird zu „Louche and De Toilet“. Das ist kein Name, sondern eine Diagnose – genial und böse! Der Übersetzer Dirk van Gunsteren dichtet diesen Wortwitz mal erfolgreich nach – Maxines Agentur „Tail’em and nail’em“ wird zu „Ertappt – geschnappt“, mal sind die Witze schlicht zu anspielungsreich und unübersetzbar. In ihnen konzentriert sich der Esprit eines Schriftstellers, der auch in hohem Alter Technik, Kultur und Politik zusammendenken will.
Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. Erschienen bei Rowohlt. 608 Seiten kosten 29,95 Euro.