Beängstigend, dramatisch, ja: apokalyptisch – in diesem Ton schreibt Frank Schirrmacher das Genre „Demographischer Horror-Thriller“ fort: Neben der Rentnerflut drohe jetzt die kinderlose Gesellschaft.
Ausgelöst vor allem von falschen staatlichen Anreizen: Finanziell stünden Ehepaare mit doppeltem Einkommen immer noch besser da als Eltern, die ihre Kinder oft mit nur einem Einkommen durchbringen müssten. Deshalb sei die Kinderrate in Deutschland längst nicht mehr „bestandserhaltend“.
Schirrmacher bleibt bei diesen längst bekannten Befunden nicht stehen, sondern macht eine noch schlimmere Entwicklung aus, nämlich…
„…dass in vielen Gebieten Europas, vor allem Deutschlands und Österreichs, wo wenige Kinder geboren wurden, die jetzt junge Erwachsenen-Generation wieder wenig Kinder bekommt. Offenbar handelt es sich hier nicht mehr nur um Werteveränderung, sondern um ein richtig neues Programm. Die trauen sich das nicht mehr zu, die haben nicht mehr das Gefühl, dass sie mit Kindern umgehen können.“
Daran sei eine fertilitätsfeindliche Lebenswelt schuld, so die These: Jugendliche werden als Einzelkinder ohne Cousins und Cousinen aufwachsen und nicht mehr mitbekommen, wie jemand aus ihrem Umfeld überhaupt Nachwuchs aufzieht.
Im Fernsehen siegen nur noch kinderlose Einzelkämpfer. Die Beziehungen in den Seifenopern aber zerbrechen ständig. Die einzige echte Familie sei eine Karikatur – nämlich die Simpsons.
Nicht nur Rentenzahler gingen uns also mit den kinderreichen Familien verloren, sondern der Altruismus überhaupt stehe auf dem Spiel, warnt Schirrmacher:
„Welcher Ort ist der einzige, der nicht von der Ökonomie regiert wird? Das ist hinter der Haustür der Familie. Die Arbeit, die ich dort für andere tue, wird nicht bezahlt. Die ist keine ökonomische Arbeit. Die Generation der Babyboomer, zu der auch ich zähle, die wird ihren Lebensabend nur ansprechend erleben können, wenn der Altruismus, die Selbstlosigkeit, die sie selbst nicht hatte, in dieser Generation nicht stark ausgeprägt ist.
Im „Methusalem-Komplott“ glaubte Schirrmacher noch an das Revival der Rentner bei den zukünftigen Verteilungskämpfen, weil die großen greisen Kohorten jede andere Generationengruppe demokratisch überstimmen könnten.
Nun rechnet der Autor mit der Globalisierung: Gut ausgebildete und gut verdienende junge Menschen könnten sich bald nach Indien oder China absetzen, wo sie nicht von umlagefinanzierten Rentensystemen erdrückt werden. Selbst, wenn die jungen Reichen bleiben: Schirrmacher ahnt nun auch,…
„…dass diese Kinder sich entscheiden werden, wem sie später helfen werden. Allen? Oder einer fiktiven Gemeinschaft? Oder ihren Eltern?“
Jeder Mensch unterstützt – zumindest in Extremsituationen – zuallererst und unbedingt seine Familienmitglieder, das belegt Schirrmacher mit eindrücklich und pointiert erzählten Beispielen aus der Forschung:
Da ist zum Beispiel die Brandkatastrophe in einem englischen Hotel:
„In diesem Fall waren es die Familien, die darauf achteten, dass alle zusammenbleiben, als das Feuer ausbrach, und auch die schwächsten Mitglieder es schafften, zu fliehen. Bei den Freunden versuchten es gerade einmal 0 Prozent, sich zu finden. Die flohen alle als Einzelkämpfer. Das muss man mal anerkennen. Das weiß der Volksmund auch: Blut ist dicker als Wasser.“
Andere untersuchte Katastrophen zeigen:
Die größten Überlebenschancen hätten Mitglieder von Großfamilien, weil sie sich untereinander fast bedingungslos helfen. Der Held und Einzelkämpfer habe keine Chance. Nein: Die Familie sei die „Überlebensfabrik“: Die Überlebensfabrik der Vergangenheit – und auch der Zukunft, wenn der Staat weder jugendliche Arbeitslose noch Rentner unterstützen könne.
Wohlgemerkt: Schirrmacher schreibt keine konservative Moral für die Kanzel, sondern sagt Entwicklungen voraus, die er für unausweichlich hält.
Dann muss auch der Hass auf die Kleinfamilie verschwinden, meint Schirrmacher, denn er speist sich weitgehend aus Erinnerungen an das vergangene Jahrhundert: Herrschsüchtige Familienväter und unterdrückte Ehefrauen, verklemmte Sexualmoral und animalisch-dümmlicher Kinderwunsch.
„Diese Familie der 50er und 60er Jahre, die kommt sowieso nicht wieder. Sondern stattdessen geht es darum, Überlebensfabriken zu schaffen…Die Familie als Hort von Enge, Spießigkeit – das muss man mal aus seinem Kopf streichen. Zuerst mal muss man sie sehen als Organisation, Kinder in die Welt zu setzen und zusammenzubleiben und zusammenzuhalten.“
Angebliche evolutionsbiologische Gesetze aus der Steinzeit bestimmen die Argumentation. Sicherlich wünscht man sich da ausgleichende Verweise auf die Sozialwissenschaften, auf kreative Sozialutopien.
Allerdings muss sich der Kritiker dann fragen, was aus den neuen Gemeinschaftsformen bislang geworden ist: Echte Kommunen aus den Siebzigern gibt es kaum, Studenten-WGs bestehen nur auf Zeit – und dort lebt man zwar miteinander, aber füttert die Anderen im Krisenfall nicht durch.
Noch eher sieht Schirrmacher die Patchwork-Familie kommen – auch, wenn er deren Zusammenhalt im Vergleich zur bürgerlich-biologischen Kleinfamilie als geringer einschätzt.
Aber es ist eben ein Zusammenhalt. Das beweisen die Nachkriegsjahre, in denen Kriegswitwen vaterlose Halbwaise aufzogen, mal ihre eigenen, mal vielleicht die Neffen und Nichten, die anschließend den Grundstein für das folgende Wirtschaftswunder legten.
In jedem Fall – so glaubt Schirrmacher, kommt den Frauen hier eine Schlüsselrolle zu.
Denn Frauen sind klüger und besser ausgebildet als die Männer, kommunikativer, netzwerkfähiger, können mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen – das sagen Biologen und Psychologen.
Die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt – einst undenkbar, dann Option – werde beim kommenden Arbeitskräftemangel zur politischen Pflicht. Ein Kinderwunsch brächte also standardmäßig die Doppelbelastung durch Familie und Beruf mit sich, wie sie heute schon vielfach vorhanden ist. Frauen also als Packesel der Gesellschaft?
„Das ist nicht konservativ. Denn wir werden eine Revolution erleben – im progressiven Sinne. Konservativ hieße: Man will sie an den Herd zurückschicken. Worum es jetzt geht, ist, sich klarzumachen, welche Irrsinnsbelastung auf die jungen Mädchen zukommt. Wieso wünschen sich heute fast alle Familien ein Kind, und das soll ein Mädchen sein? Heutzutage kann ein Mädchen Geld verdienen, zweitens ist es sozialkompetent, also eine gute Pflegerin.“
Gerade den Leserinnen dürfte es aufstoßen, dass immer von kinderlosen Frauen, statt von kinderlosen Paaren die Rede ist. Dieser unglückliche Slang sollte aber nicht über Schirrmachers progressive Seiten hinwegtäuschen: Auch Männer werden, so weiß der Autor, für Einkommen und Erziehung gleichermaßen sorgen müssen. Die Mütter sollten entlastet werden, die Erziehungsleistung müsse endlich bei der Rente angerechnet werden.
Unmissverständlicher ist dankbarerweise Schirrmachers Bekenntnis zu mehr Zuwanderung – die zumindest teilweise das demographische Problem lösen könnte:
„Wir müssen jetzt endlich dazu übergehen, die Zuwanderer zu integrieren. Noch heute glauben ja Leute, wir hätten ein Problem mit Zuwanderung. Das haben wir überhaupt nicht. Sondern wir werden sie dringend brauchen. Wir werden um jeden ausgebildeten Zuwanderer glücklich sein.“
Leider bietet der Autor sonst kaum Lösungen. Und verschweigt zudem weniger drastische Schätzungen zur Bevölkerungsentwicklung – die es auch gibt. Schließlich hat eine Gesellschaft, die keine Kinder aufzieht, zunächst auch mehr Geld für die Alten. Und eine schmale Hoffnung bleibt: Der Produktivitätsfortschritt könnte für anhaltenden Wohlstand sorgen.
Der Rententopf, so ließe sich Schirrmacher entgegnen, leert sich derzeit auch aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und vieler prekärer selbständiger Arbeitsverhältnisse. Denn wichtig ist, wie viele Menschen in das System einzahlen und wie hoch ihre Einkommen sind. Von Minijobbern ohne Sozialversicherung haben Rentner also nichts. Ganz abgesehen davon, dass auch die Minijobber nicht genug Geld für die „Aufzucht“ der benötigten Kinder haben.
Dann wiederum behielte Schirrmacher doch Recht. Mag er zu Recht oder zu Unrecht ein Untergangsprophet sein: Das kurzweilige, ja spannende Büchlein motiviert mehr als jede Statistik dazu, sich mit Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Egal, ob wir diese Zukunft per Kleinfamilie meistern – oder doch ganz anders.
Frank Schirrmacher: Minimum. Vom Vergehen und Neuenstehen unserer Gemeinschaft. Blessing 2006.