Anselm Neft gelingt das Kunststück, das Problem des Missbrauchs anhand eines fiktiven Internats in aller Komplexität zu schildern und sogar einen Roman mit Sogkraft zu schreiben.

Dabei wirkt Anselm Neft erst einmal wie ein Satiriker. Ein Kurzgeschichtenband namens „Die Lebern der Anderen“ oder skurrile Details aus seinen früheren Büchern wie Harzer Hitlerfans und rheinische Rollenspieler legen das nahe, oder überhaupt Buchtitel wie „Helden in Schnabelschuhen“. Der 1973 geborene Autor organisiert in seiner Wahlheimat Hamburg Lesebühnen-Abende, hat Unmengen von Satiretexten für die Titanic und die taz geschrieben.

Doch wer Anselm Neft trifft, erkennt einen ruhigen, nachdenklichen Menschen, der seine Worte sorgsam abwägt. Und so geht es in vielen seiner Werke unter einer manchmal ungewöhnlichen Oberfläche oft um Existentielles: Wie Lebensgeschichten ein Individuum zusammenhalten, etwa in „Hell“.

2018 las er bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur einen Text über einen Obdachlosen. Und in „Vom Licht“ erzählte er von einer Kindheit in einer Sekte. In eine ähnliche Richtung geht nur auch „Die bessere Geschichte“, einem Buch über Missbrauch in einem reformpädagogischen Internat. Doch der Autor, selbst Ex-Schüler des skandalgeschüttelten Aloisius-Kollegs in Bonn, hat alles andere als einen Schlüsselroman geschrieben.

Um es gleich zu sagen: Das ist kein angestrengtes Debattenbuch, kein PR-wirksamer Schlüsselroman, sondern kluge, berührende Prosa. Anselm Nefts Roman „Die bessere Geschichte“ spielt das verschlungene Problem des Missbrauchs anhand eines erfundenen, reformpädagogischen Internats durch, in das der 13jährige Tilman Anfang der Neunziger Jahre kommt, erzählt Anselm Neft:

„Ich habe nichts gegen eine Debatte. Nur: Wenn es allein um die ginge, dann könnte man ja einen Essay oder einen langen Zeitungsartikel schreiben, was ich ja zu dem Thema auch schon getan habe… Ein Roman kann die Komplexität aber erhöhen und andere Erfahrungen möglich machen, die jenseits von der deskriptiven und der normativen Ebene sind.“

Neft schildert durch die Augen von Tilman nuancenreich, wie der Junge zum Opfer wird: Da ist Tilmans Vorbelastung: Die Mutter hat sich umgebracht, der kalte, formelle Vater ist mit der Erziehung überfordert und schickt Tilman in die „Freie Schule Schwanhagen“ an der Ostsee. Tilman, ohne inneren Halt, ahnt, dass er hier neu anfangen kann. Schon bald wohnt er mit dem leitenden Pädagogenpaar sowie zu elf Jugendlichen in einem Haus und saugt begeistert die Philosophie hier auf: Die Gesellschaft draußen lulle alle mit Tabus in einer Art „Trance“ ein.

Das bereitet den Weg für die Grenzüberschreitungen, die Tilman perfiderweise als Horizonterweiterungen erscheinen: Fotosessions mit nackter Haut, fast satanistische Drogenrituale, sexuelle Gefälligkeiten, Beischlaf. Tilman will sich sogar selbst „umprogrammieren“ und ist ein Symbol für das Unheimliche am heutigen Trend der Selbstoptimierung, erklärt Anselm Neft:

„Ich glaube, in der Pubertät fängt fast jeder Mensch an, sich für bestimmte Gruppen, bestimmte Erwartungen passend zu machen. Von daher ist das, was hier im Roman beschrieben wird, überhaupt keine parallele Welt, sondern eigentlich nur anhand eines etwas besonderen Beispiels das Normale. Wir versuchen, uns zu konditionieren und werden konditioniert. Das ist Gesellschaft.“

Es ist großartig, wie undurchsichtig sich Tilman über weite Strecken bleibt: Er verliebt sich in seine Mitschülerin Ella, ebenfalls Opfer, und versteht nicht recht, warum diese Liebe verdorren muss. Bewusst wird Tilman der Missbrauch erst 27 Jahre später – vielmehr: halbbewusst. Ausgerechnet Tilmans Jugendliebe Ella will den Missbrauch von damals öffentlich machen, knüpft zu allen Mitschülern Kontakt – und das Opfer Tilman droht zum Täter zu werden, weil er sich in Ellas Tochter Lucia verliebt. Nahm der Roman im ersten Teil explizit auf Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ bezug, so erinnert Teil zwei ohne Übertreibung in Motivik und höchst ambivalenter Sogwirkung an Vladimir Nabokovs „Lolita“.

Der Leser versteht die bittere Wahrheit: Pädophile suchen die eigene, verlorene Unschuld oft in einem verehrten Kind, weil ihnen der erwachsene Sex zu roh und verdreckt erscheint. Trotz der Zweiteilung wirkt der Roman wie aus einem Guss, vielleicht auch, weil Neft die Motivkreise beherrscht: Im Roman „Vom Licht“ erzählte er schon von christlichen Sekten, eine ähnliche Brüchigkeit von Realitätserfahrungen war im Roman „Hell“ zu spüren, und mit dem Satanismus hat sich Neft schon in seiner Magisterarbeit beschäftigt, sagt der Autor:

„Mein Lebensthema ist, welche Geschichten wir bei uns und andere erzählen und wie uns das nutzt und beschädigt, und die Frage, ob wir zu besseren Geschichten finden können – oder uns diese besseren Geschichten finden. Und man könnte auch noch dazu sagen, dass die sexuelle Gewalt gegen Kinder nicht irgendwie die schreckliche Verirrung oder Ausnahme einer patriarchalischen Gesellschaft ist, sondern einfach ein Kernelement einer Gesellschaft, die auf Herrschaft aufbaut, die auf Hierarchie aufbaut… Und das ist eine Mythologie, die sehr tief verankert ist, an die wir alle mehr oder minder glauben, und die man nicht durch Reflexion abschaffen kann alleine.“

Nicht ohne Grund schwafeln die Lehrer im Internat vom antiken Griechenland im Sinne vom pädagogischem Eros. Die klassische Bildung ist Teil der pädophilen Ideologie, von der hier offen bleibt, ob das alles heimtückisch eingesetzt oder schrecklich naiv von den Tätern geglaubt wird – beides sei möglich, erzählt Neft, der dazu viel recherchiert hat.

Für den komplexen Stoff hat der Autor klare, konservative ästhetische Entscheidungen getroffen. Das überrascht! Insbesondere, wenn man sich an seinen Text bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2018 in Klagenfurt erinnert: Damals legte er mit „Mach‘s wie Miltos“ einen Text voller ineinander verschränkter Perspektiven und Realitätsebenen vor. Im neuen Roman erzählt Anselm Neft eher realistisch und allein aus Tilmans Sicht:

„Ein Ich-Erzähler hat für mich den großen Vorteil, dass er sofort eindeutig als subjektive Stimme, die nicht die Wirklichkeit oder die Wahrheit erzählen kann, zu erkennen ist… Und er hat einen eigenen Sound und durch seine Art der Sprache wird auch seine Art der Weltwahrnehmung und der Selbstwahrnehmung abgebildet. Und das ist etwas, was die Gattung Roman sehr gut kann! Wenn man dann in verschiedene Köpfe rein schlüpft, wird dieser Effekt wieder konterkariert. Das wollte ich nicht.“

Das Buch ist auch noch strikt chronologisch erzählt, obwohl der Stoff geradezu wie geschaffen wäre, Flashbacks einzusetzen, um zu zeigen, wie sich die Vergangenheit in und über die Gegenwart schieben kann. Außerdem sind die Sätze meist kurz, der Ton umgangssprachlich und einfach. Das soll zum einen sicher Tilmans Naivität unterstreichen. Zum anderen verschlingt man das Buch deshalb aber geradezu wie einen echten Pageturner. Für Anselm Neft ist das freilich ein ambivalenter Effekt:

„Mehrere Leute haben mir schon die Rückmeldung gegeben, dass sie das sehr schnell gelesen haben, dass sie das kaum aus der Hand legen konnten. Das freut mich einerseits. Andererseits zeigt es natürlich auch, dass das Buch sprachlich nicht so viele Widerstände offeriert, was ja auch eine bewusste Entscheidung war, um ein schwieriges Thema nicht noch sprachlich unzugänglich zu machen oder gar hermetisch.“

Fast täglich, berichtet Anselm Neft, erreichen ihn Mails von Betroffenen, die gestehen, sie verstünden Angehörige besser – oder auch sich selbst. Dabei sind dem Buch insgesamt möglichst viele Leser zu wünschen. Wie dieser sich selbst undurchsichtige Protagonist langsam die Mechanismen, die Ambivalenzen und die Selbstlügen der Pädophilie begreift, das ist packend und grandios beschrieben.

Anselm Neft: Die bessere Geschichte. Erschienen bei Rowohlt. 480 Seiten kosten 22 Euro.

Rezensiert für das SWR2 Lesenswert Magazin.