Seine bahnbrechenden linguistischen Arbeiten haben ihn weltberühmt gemacht, seine kompromisslose Kritik an der US-Außenpolitik spaltet die Intellektuellen in den USA. Die einen verehren ihn als aufrechten Denker, die anderen verteufeln ihn als „Ajatollah des antiamerikanischen Hasses“. Am 7. Dezember wird Noam Chomsky 80 Jahre alt. Passend dazu sind in Deutschland zwei Sammelbände erschienen: „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen“ versammelt längere gesellschaftskritische Essays Chomskys von den 60ern bis heute; „Interventionen“ bietet eine Sammlung von kürzeren Artikeln, die Chomsky 2002 bis 2006 schrieb. Pascal Fischer hat sich mit Noam Chomsky an seiner Wirkungsstätte am Massachusetts Institute of Technology unterhalten.

Wollte man über das Erscheinungsdatum dieser zwei Chomsky-Sammelbände sinnieren, so mutet es zunächst passend, dann unpassend, schließlich doch wieder stimmig an. Passend, weil gerade das Buch „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen“ gewissermaßen den 80. Geburtstag Chomskys feiert, und zwar mit repräsentativen  Texten zu Vietnam, Watergate, Anarchie, Medien und Propaganda, Sprache und Freiheit. Unpassend, weil es dort, ebenso wie im schmaleren Bändchen „Interventionen“ um Bushs katastrophale Regierungszeit geht, die sich bekanntermaßen dem Ende zuneigt. Aber die Analysen zum elften September, zum Irakfeldzug, zu Afghanistan, zur Weltwirtschaftsordnung wirken dennoch nicht überholt, weil Chomsky überall die tieferliegenden Kontinuitäten der US-Außenpolitik freilegt. Vor diesem Hintergrund können  die zwei Bücher geradezu als Warnung für euphorisierte Europäer gelesen werden, in Obama den quasirevolutionären internationalen Moralshüter zu sehen, den multilateralen Messias:

„Das ist eine komplette Illusion. Obama kritisiert beispielsweise die Irakinvasion, weil sie scheiterte und zu kostspielig war. Das ist doch, als kritisierte ein Nazigeneral Hitler nach Stalingrad, weil er einen Zweifrontenkrieg geführt habe, anstatt erst England zu besiegen. Und beim Iran besteht Obama darauf, dass die USA vielleicht völkerrechtswidrig handeln müssen. Das ist doch die Bedeutung der Worte: ‚Wir halten uns alle Optionen offen‘. Das ist eine Gewaltandrohung, welche die Vereinten Nationen eindeutig verbieten!“

Die Vergleiche brechen, wie gewohnt, Tabus. Aber simpel und bohrend fragt Chomsky nach den Opfern aller vergangener US-Interventionen in der Welt. Das sind moralische Grundsatzfragen, über die viele US-Intellektuelle hinwegsehen. Vom moralischen Wegweiser, vom unbeirrbaren Kritiker habe sich der amerikanische Intellektuelle wegentwickelt zu einem Experten, der die Regierung berät, eine Entwicklung, die Chomsky in seinen Texten bis zum Vietnamkrieg zurückverfolgt.

„Die intellektuelle Welt ist tief konformistisch. Die intellektuelle Debatte über den Vietnamkrieg hatte ein ziemlich enges Meinungsspektrum. Damals war diese Debatte auf zwei Positionen beschränkt: Die eine: Wenn wir den Krieg ausweiten, gewinnen wir. Wenn wir mehr bomben, gewinnen wir. Und die andere Position: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Er begann mit einem ungeschickten Bestreben, Gutes zu tun, und entwickelte sich zu einem Desaster, das zu teuer wurde. So läuft die Diskussion über den Irak heute ebenfalls.“

Damit erhalten selbst die vier Jahrzehnte alten Essays eine unerwartete Aktualität. Denn Chomsky widerlegt die einfältigen und entrüsteten Medienberichte, die mit George W. Bush eine neue Dimension aggressiver, arroganter US-Außenpolitik gekommen sahen. Vielmehr ist es eine Konstante der US-Außenpolitik, zu glauben, man dürfe zur Not in geopolitisch wichtigen Regionen genehme Regierungen installieren. In beiden Büchern führt Chomsky das minutiös an Beispielen wie Vietnam, Nicaragua, dem Iran und eben auch dem Irak aus. Dabei scheint es fast egal, ob die USA nun Diktatoren mit Massenvernichtungswaffen oder Rohstoffknappheit fürchteten. Oder regionale kommunistische, sozialistische, panarabische, islamistische Flächenbrände. Maßgeblich ist die dreiste Idee einer Weltmacht, die glaubt, sich gegen solcherlei Gefahren nur durch militärische Angriffe wehren zu können. Bushs Doktrin von den Präventivschlägen ist also nicht neu, argumentiert Chomsky.

„Man kann die Bush-Doktrin aus der Geschichte der USA erklären. Frühere Präsidenten wären über die Bush-Doktrin nicht erstaunt. Sie geht bis John Quincy Adams im Jahre 1818 zurück, auf dessen Prinzip, dass der Weg zur nationalen Sicherheit die Expansion ist. Deshalb ist Bush im Irak einmarschiert. Dieser Kuchen gehört einfach den USA und darüber gibt es keine Diskussion. Wer sagt, dass eine solche Aggression ein Kriegsverbrechen nach dem Nürnberger Tribunal ist, wird nicht ernstgenommen. Die Idee, dass wir dieselben Maßstäbe an uns anlegen, wie an andere, ist undenkbar. Sie ist nicht Teil der Diskussion.“

Insbesondere die „Interventionen“ wenden sich Israel zu. Hier ist es leider polemisch einseitig, wenn Chomsky ausführt, wieviele Vetos die USA bei Resolutionen gegen Israel eingelegt haben, mit welchen Vorbehalten Tel Aviv die „Roadmap to peace“ aufweicht. Neu sind die Erkenntnisse nicht unbedingt. Und die Terroranschläge der Palästinenser lässt Chomsky dabei zu sehr in den Hintergrund treten. Interessant wird es eher in „Die Verantwortung der Intellektuellen“, wenn Chomsky durch die gegenwärtige Politik hindurch blickt und zu erkennen meint, warum der Westen automatisch eher für Israel Partei nehme: Weil sich Israel in die abendländische Tradition von Kolonisierung und Besatzung einschreibe.

„Das ist die Geschichte der westlichen Zivilisation. Gerade für die USA gilt  das besonders. Die US-Bevölkerung unterstützt Israel, weil unsere eigene Tradition in Israel einen Nachhall findet. Das ist doch die Geschichte der USA: Wir verdrängen die einheimische Bevölkerung durch eine höhere Rasse. Das hat mit einem weiteren Charakterzug der Amerikaner zu tun: Die USA sind jenseits des internationalen Spektrums, was fundamentalistische Glaubensinhalte angeht.“

Wie uns das Nachwort in den „Interventionen“ informiert, schrieb Chomsky diese Texte ursprünglich für das New York Times Syndicate, ein Agenturunternehmen, das Nachrichten und Leitartikel anbietet. Die Texte erschienen in ausländischen Zeitungen; in den USA hingegen nur in regionalen Blättern. Das ist ein Armutszeugnis für ein Land, das sich gerne als Hüter der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt präsentiert. Es befremdet, wenn ein US-Kritiker die „Interventionen“ als ermüdend abqualifiziert. Eine Artikelserie wiederholt notwendigerweise Fakten und Argumente, wenn sie gegen die fortwährende PR der Bushregierung anschreibt. Ein Weltentwurf als Fortsetzungsroman wird selbstredend nicht daraus werden können. Gerade die Unermüdlichkeit aber zeichnet diesen Aufklärer Chomsky seit Jahrzehnten aus, trotz aller Verleumdungen und Lügenkampagnen, die er ertragen musste, wie er beinahe gleichgültig erwähnt.

„In den USA schicken wir ja keine Dissidenten in Folterkammern. Ich bin ja nicht im Gefängnis, ich werde nicht zensiert. Aber warum würde die Mainstream-Presse mich drucken wollen, wo ich liberale Intellektuelle kritisiere? Wenn man sich zu weit von der Mitte wegbewegt, wird man als Radikaler und Extremist angesehen. Wenn mich die Mainstream Presse nicht ausschließen würde, müsste ich glauben, dass ich einen Fehler mache! Man kann es schaffen, ehrlich zu sein. Als Journalist wird man vielleicht gefeuert, oder eine Zeitung bekommt keine Werbung mehr, aber dann muss man sich halt eingestehen, dass man nicht unabhängig ist. Doch für Magazine ist das kein Thema, und für Gelehrte an der Universität auch nicht!“

Diese Aufklärung hat eben ihren Preis, auch für den Leser. Chomskys Texte desillusionieren, ja, machen geradezu zynisch. Oft scheint es, als müsse ausnahmslos jede hehre politische Erklärung nur Machtinteressen verschleiern, als könne Chomsky keinem US-Politiker eine gewisse Portion ehrlichen Idealismus zugestehen. Ein kleiner Teil seiner Fangemeinde dürfte sich in dieser Lust an der Paranoia suhlen. Ein weitaus größerer Teil dürfte enttäuscht sein, keinen gänzlich neuen, formvollendeten analytischen Bausatz zum Verständnis von Macht und Propaganda zu erhalten. „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen“ ist ein guter, manchmal recht akademischer Querschnitt durchs Werk. Die „Interventionen“ dagegen leisten aufklärerische Nadelstiche gegen die selbstherrlichen ideologischen Dickhäuter im Weißen Haus. Manche Aufsätze wurden leider von der Geschichte längst überholt. Trotzdem bleiben Chomskys Texte notwendige intellektuelle Drohnen, die den Machtsumpf in Washington öffentlichkeitswirksam überwachen.

Der Essayband „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen“ ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen. 480 Seiten kosten 24 Euro 90, die einzelnen Aufsätze haben Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke, Anna Kamp, Burkhart Kroeber und Gerlinde Schermer-Rauwolf übersetzt. Der Band mit den Zeitungsartikeln, „Interventionen“, ist bei der Edition Nautilus erschienen, hat 224 Seiten und ist zum Preis von 18 Euro zu erwerben. Er wurde von Maren Hackmann übersetzt.

Rezensiert für das „Forum Buch“ auf SWR2.