Massen und Massenbegeisterung sind Gunter Gebauer nicht fremd: Er hat einen der skurrilsten Lehrstühle in Deutschland – den für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. In seinem neuen Buch versucht Gebauer nun eine neue Theorie der Masse.

Der 1944 Geborene hat schließlich auch den Sport insgesamt für das Denken ganz neu erschlossen, zuletzt etwa in einer Philosophie des Fußballs. Mit seinem 1975 geborenen Kollegen Sven Rücker, Essayist und Philosophiedozent aus Berlin,diagnostiziert Gebauer nun einen Epochenschnitt:

Hooligans, Proletariermobs, Nazihorden: An sowas denkt man beim Wort Masse.
Überholte Bilder veralteter Theorien der Masse, schreiben Gunter Gebauer und Sven Rücker in ihrem neuen Buch „Vom Sog der Massen und der neuen Macht des Einzelnen“.

Denn Massen sind längst in der kulturell gebildeten Mittelschicht verortet: z.B. bei Konzertbesuchern oder engagierten Demos. Insgesamt behandelt der Band so unterschiedliche Phänomene wie Fußballfans, Karnevalsumzüge, Twitterfollower und natürlich so historische Demonstrationen wie die der 68er, die 1989, aber auch jene neueren in Istanbul, Kiew oder Kairo.

Das sind Massen, die sich lang nach der Zeit um 1900 ergeben haben, als die bis heute prägenden Theorien über Massen entstanden. Das Autorenduo revidiert vor allem Philosophen, Soziologen und Psychologen wie Gustave LeBon, Gabriel Tarde, Emile Durkheim, Norbert Elias und Sigmund Freud. Die sahen in Massen gerne willenlose, hypnotisierte, zerstörerische, homogene, chaotische Mengen. Das Autorenduo aber zeigt gerade anhand von neuen Massen wie Konzertbesuchern, Flashmobs, Demonstranten und Netz-User-Massen: Hier bewegen sich unterscheidbare Individuen, sozial gemischt, sich durchaus bewusst, euphorisiert vom Erlebnischarakter.

Alte Massekonzeptionen muss man deshalb nicht komplett über den Haufen werfen: Grundsätzlich seien Massen als mobilisiert, spontan, offen für alle zu begreifen. Von außen betrachtet, wirken sie mal erregt, mal bedrohlich – eben stets ambivalent. Gerade im Netz gibt es hetzende Troll-Horden neben konstruktiven, schöpferischen Crowdsourcing-Massen. Gerade Shitstorms im Netz folgen einer Logik der Ansteckung, die Massen schon früher unterstellt wurde. Und Influencer sowie Politiker scheinen – ganz im Geiste Freuds – eine fast libidinöse Beziehung zu ihren Followern zu haben.

Natürlich zielt dieses Buch auf eine Öffentlichkeit, die von Hetzjagden und Fake-News-Epidemien erschreckt ist. Tatsächlich finden sich einige Diagnosen mit engagiertem Impetus: Etwa, wie wütende Massen sich fälschlich im Osten zum ganzen Volk stilisieren; wie das Reden von der Flüchtlingswelle Geflüchtete zu einer Art Unheil, einer stummen Masse degradiert; wie der Populismus einen direkten, verletzenden Kommunikationsstil pflegt, der sich an wütende Massen richtet.

Fairerweise muss gesagt werden: Über weite Strecken handelt das Buch auch schlicht alle erdenklichen Nebenaspekte zum Thema ab, manche gebührend kurz, wie Massentourismus oder Massenkatastrophen, andere unverständlich ausgewalzt, wie etwa ein Abschnitt zu Hans Eislers Kampfliedern. Denn in akademischer Manier räumen die Autoren erst den überholten Theorie-Schutt beiseite, inklusive etymologischer Herleitungen, anstatt sofort zu sagen, was denn Massen heute nun ausmacht. Und dann ist es enttäuschend, nur ein kleines Kapitel zum Schwarm-Begriff zu lesen, dem zentralen, hochaktuellen Nachbarbegriff. Stattdessen werden Massen abgegrenzt von Klassen und Schichten, von „Volk“ und „Gruppe“.

Demgemäß stützt sich der Großteil des Buches auf klassisch geisteswissenschaftliche Quellen: Theorie-Texte, geschichtliche Zeugnisse, Literatur, Filme. Die erkenntnistheoretischen Fallen – gerade Kunstwerke interpretieren Massenphänomene subjektiv, historische Berichte sind unzuverlässig – benennen die Autoren ehrlich und umgehen sie bestmöglich.

Am Ende bleibt der Massebegriff doch vage, weil es schlicht jedes denkbare Phänomen ins Buch schafft: Shitstorms, Wahlbeeinflussung durch Bots, Touristenströme, Massengeschmack, Zombiefilme, Kirchentage, IS-Kämpfer, Ameisenpheromone – scheinbar musste schlicht jede Idee unter dem Vorwand einer erschöpfenden Erfassung hier herein. Das ergibt viele kluge Beobachtungen, aber auch viele Ausfransungen in der Theorie.

Gunter Gebauer und Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen. Erschienen bei der Deutschen Verlags Anstalt. 352 Seiten kosten 22 Euro.

Für die SWR2 Lesenswert Kritik.